Kapitel 3: Spannungsüberschlag & Funkenflug (4)

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Müde schob ich meine Hände tief ins Innere der Ärmel meines Pullovers. Draußen war es längst dunkel geworden, aber obwohl ich direkt unterm Lichtschalter auf dem Boden hockte, streckte ich meine Hand nicht danach aus. Ich wollte nicht. Der Schlüssel für die Zimmertür steckte immer noch in meiner Hosentasche und ich dachte nicht im Entferntesten daran, ihn herauszuholen. Hinter meiner Stirn hatte sich längst ein dumpfer, pochender Schmerz eingestellt. Ich hatte Durst. Ich hatte ganz sicher keinen Hunger, aber trotzdem war mir flau. Ingas Vollkornbrot war das letzte gewesen, das ich gegessen hatte. Ich wollte gleichzeitig schlafen und auch doch nicht, weil ich nicht sicher wusste, ob Julian immer noch vor der Zimmertür saß, keine fünfzig Zentimeter von mir entfernt, aber sicher durch eine Wand getrennt. Er war ausgerastet, wirklich ausgerastet. In den vergangen Monaten hatte ich ihn nicht einmal ausrasten sehen, aber als ich die Tür hinter ihm zugeworfen und den Schlüssel im Schloss herumgedreht hatte, da war er ausgeflippt. Er hatte wütend gegen die Tür gehämmert und gebrüllt, dass ich das nicht machen könne, dass ich das nicht machen dürfe. Er würde durchdrehen vor Sorge. Nun, offensichtlich konnte ich. Er und ich, wir hatten eigentlich eine Vereinbarung und die besagte, dass ich meine Zimmertür nicht einfach abschließen konnte. Diese Vereinbarung gab es nicht ohne Grund- und ich hatte sie bisher eingehalten, weil ich den Sinn verstand, weil ich keine Notwendigkeit gesehen hatte dagegen zu verstoßen und nicht zuletzt weil ich keinen Ärger hatte provozieren wollen. Jetzt allerdings fand es ich die abgeschlossene Tür notwendig und nahm Julians Ärger mehr als billigend in Kauf. Ich wusste jedenfalls nicht, ob er tatsächlich vor Sorge durchgedreht war – wohl kaum- oder ob er einfach aufgegeben hatte. Seit die Sonne untergegangen war, hatte er keinen Mucks mehr von sich gegeben und ich war mir nicht sicher, ob er sich leise davongestohlen hatte oder mich nur in falscher Sicherheit wiegen wollte. Erst als ich Stunden später – ich hatte mich noch immer nicht gerührt und meine Knochen fühlten sich mittlerweile nur noch taub und steif an- hörte wie Kim mit Julian die Treppe hochkam, wusste ich sicher, dass er zwischendurch nach unten gegangen sein musste.

„Ich will mir nicht das Zimmer mit Felix teilen.", jammerte Kim laut und an ihrem Tonfall hörte ich deutlich, dass sie den Tränen schon wieder nahe war. „Ich will nicht. Der muss viel früher ins Bett als ich und dann muss ich leise sein und darf das Licht nicht anmachen und außerdem...."

„Außerdem was, Kim?" Julian klang gereizt, als er die Tür des benachbarten Zimmers aufmachte.

„Der nervt. Und dann fängt der an zu heulen und dann kann ich nicht schlafen. Ich will das nicht.", nörgelte sie weiter.

„Er ist dein Bruder. Du wirst es überleben."

„Ich will nach Hause. Ich will in mein Zimmer und ich will zu Mama." An der Stelle heulte sie wirklich los und ich ließ meinen Kopf genervt gegen die Wand sinken. Ich will zu Mama. Immerhin hatte sie noch eine Mama. Hätte ich ihr gegenübergestanden, dann wäre das Stelle dich nicht an, du dummes, verzogenes, kleines Mädchen nicht hinter meinen Zähnen geblieben.

„Morgen nach der Schule, Kim. Okay?", hörte ich Julian sagen und für eine Weile hörte man nur ihr Schniefen, bevor Julian ihr eine gute Nacht wünschte, Kim zum Zähneputzen ins Bad schickte und danach nochmal an meine Tür klopfte, dieses Mal sehr zurückhaltend.

„Magst du aufmachen, Lukas?"

Ich ließ mein Schweigen für sich sprechen und streckte meine kalten, steifen Beine aus.

„Ich habe mit unserer Sachbearbeiterin beim Jugendamt gesprochen."

Bevor er den Satz beendet hatte, zog ich die Beine wieder an und hielt den Atem an. Den Schlüssel holte ich trotzdem nicht aus meiner Hosentasche.

„Die Trennung muss nicht bedeuten, dass du uns verlassen musst, Lukas. Das wird geprüft und du kannst da auch mitreden. Wenn du das möchtest, dann setze ich alles daran, dass du mit mir und Kim und Felix ein neues Zuhause findest. Alle wollen die beste Lösung für dich finden."

Die beste Lösung für mich. Die beste Lösung unter lauter miesen Optionen. Glaubte er ernsthaft, dass es eine gute Lösung war, in diesem Minenfeld, dass die Trennung zwangsläufig geschaffen hatte irgendwie die Jahre bis zu meinem achtzehnten Geburtstag rumzukriegen? Mich durchzuckte der bittere Gedanke daran, was meine Eltern dazu sagen würden, wenn sie sehen könnten, wie ich mit fremden Leuten in diesem furchtbaren Haus saß und über gute Lösungen für das Problem Lukas geredet wurde. Es würde ihnen das Herz brechen. Ich würde ihnen das Herz brechen, weil ich auf diesem Boden saß und bockig war. Fuck. Müde fuhr ich mir mit meinem Pulloversaum über die Augen.

„Denke drüber nach, Lukas, ja?"

Ich nickte stumm, weil mir meine Antwort, zu der ich mich hatte durchringen wollen, einfach im Hals steckenblieb.

„Ich bin noch eine Weile unten. Wenn du Hunger hast, kannst du dir was holen. Wenn du irgendwas brauchst, dann nimm es dir einfach. Und wenn du reden willst, dann bin ich unten, okay?"

„Hm.", machte ich leise und grub meine Fingernägel absichtlich schmerzhaft in meinen Unterarm, um das beklemmende Gefühl abzuschütteln, dass der Gedanke an meine Eltern ausgelöst hatte. Sie sind tot. Du lebst, Lukas. Du lebst und jammerst und bockst. Sie hätten gewollt, dass ich mich zusammenriss und das Leben nutzte, dass sie nicht mehr hatten. Sie würden sicher nicht ertragen, mich in Selbstmitleid ertrinken zu sehen. Du bist so ein Idiot. Ich wartete, bis ich hörte, wie Julian die Treppe herunterging, dann rappelte ich mich auf, schleifte meinen Rucksack zu dem alten Schreibtisch herüber und zog mein Mathebuch heraus, um mit meinen Hausaufgaben anzufangen. 


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Ob Mathehausaufgaben jetzt das richtige für Lukas sind? Was meint ihr?

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