Kapitel 12: Sicherheitsnetz (7)

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Noch eine halbe Stunde später trabte Nikita mit weggedrücktem Rücken und Giraffenhals vorweg und eierte an jeder Wegkreuzung unsicher von rechts nach links. Meine Beine schmerzten längst vom mittlerweile ungewohnten und konstanten Vorwärtstreiben- und meine Ohren bluteten von Julians mantraartig wiederholtem „Vorwärts, einrahmen, Lass-sie-gucken". Also ließ ich sie nervös Baumstämme anschnauben und geschockt auf ein Stück Flatterband starren, das weit weg im Unterholz einen Baum markierte und das mir selbst nie aufgefallen wäre. Ein besonders rücksichtsvoller Mountainbikefahrer, der sich extra leise an uns hatte vorbeischleichen wollen, gab ihr schließlich fast den Rest und sie rannte rückwärts mit mir ins Unterholz, während Julian mit Fanjana auf dem Reitweg auf uns wartete und die aufrichtige Entschuldigung des sichtlich erschrockenen Mountainbikefahrers entgegennahm.

„Deswegen gehöre ich nicht auf dieses Pferd.", sagte ich unwirsch, als Nikita den Vorwärtsgang wieder gefunden hatte und sich an Fanjanas Schweifrübe hängte.

„Die wäre mit mir genauso ins Unterholz gesprungen."

„Die kriegt gleich einen Herzinfarkt."

„Das würde sie mit mir genauso. Ich würde mich davon nur nicht anstecken lassen." Julian nickte mir aufmunternd zu. „Du reitest die nicht schlecht. Lasse dich von ihr nicht so verrückt machen."

Darauf schwieg ich. Nikita eilte die nächsten Minuten so spannig hinter Fanjana her, dass ihr Hals schon schweißnass war, als wir den ersten Galopp wagten. Insgeheim rechnete ich damit, dass die Stute mir spätestens jetzt die Kooperationsbereitschaft endgültig versagen und die Flucht nach vorne antreten würde- aber nach den ersten eiligen Galoppsprüngen fing sie sich. Julian zog das Tempo auf der langen Galoppstrecke nach und nach an und ich registrierte ungläubig, wie Nikita erst einmal, dann zweimal zaghaft abschnaubte, wie sie die Ohren spitzte und ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, sie an die Hilfen zu bekommen. Zu dem mulmigen Gefühl in meinem Bauch gesellte sich etwas, dass ich in den letzten Wochen kein einziges Mal gefühlt hatte: Leichtigkeit. Ich traute ihr nicht, weil ich jederzeit darauf gefasst war, wieder im Unterholz zu verschwinden, aber sie war da. Sie kitzelte gemeinsam mit der Sonne meine Nase und brach die Betonplatte, die nicht nur über mein altes Zuhause, sondern auch über mich gegossen worden war, zumindest für den Moment auf. Ich murmelte Nikita ein „Brav" zu, als wir uns dem Ende des Reitweges näherten und Julian erst zum Trab und dann zum Schritt durchparierte.

„Und?", rief er mir erwartungsvoll zu und wandte sich nach mir um.

„Lebe noch.", gab ich zurück und reckte ungläubig und erleichtert einen Daumen nach oben. Nikita prustete, schüttelte sich und zog mir dabei die Zügel ein Stück aus der Hand. Sie schnaubte, wieder und wieder, bis Fanjana sich anstecken ließ.

Julian schmunzelte. „Sina war die letzten Monate ständig draußen mit ihr und hat sie einfach viel vorwärts galoppieren lassen, damit sie mal loslässt. Das tut ihr gut, wie du vielleicht merkst."

„Kaum." Ich klopfte Nikita den immer noch nassen Hals.

„Die musste so dringend mal raus aus der Halle. Sina hat die wirklich Runde um Runde um die alte Geländestrecke galoppieren lassen, ist mal zum Planschen ins Wasser geritten und hat die ganz nebenbei ein paar kleine Sprünge machen lassen. Das hat ihr wirklich Selbstvertrauen gegeben und die hat seit Wochen nicht mehr vorm Sprung geparkt.", berichtete Julian mit unüberhörbarem Stolz. „Und dann sieht man wirklich, was für ein fantastisches Pferd die ist. Die kann ja alles springen, wenn sie will."

„Das habe ich nie bezweifelt."

„Aber du glaubst immer noch, dass du sie nicht händeln kannst."

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