Kapitel 24: In der Schwebe (2)

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Pia


Ich stopfte mein Anatomiebuch grob in meinen vollen Rucksack, bevor ich viel zu früh aufstand und mich mit meinem Zeug den engen Gang im Zug Richtung Tür entlangkämpfte. Nach dem Wochenende in Renesse und der ewig langen und umständlichen Rückfahrt hätte ich hundemüde sein können, aber ich schaffte es, auch nach neun Stunden und drei Umstiegen, gute Laune zu haben. Ich hätte gerne daran geglaubt, dass es daran lag, drei Tage bei Kim gewesen zu sein und mit den Pferden am Strand geplantscht zu haben, aber ich wusste genau, dass der Grund für mein kribbeliges Hochgefühl die Nachricht war, die Lukas mir früh morgens geschickt hatte. Wann ich nach Berlin zurückkäme. Ob er mich vom Bahnhof abholen solle und wir zusammen etwas essen sollten. Natürlich hatte ich zugestimmt und der Gedanke daran, dass er mich nach dem Wochenende scheinbar so schnell wie möglich wiedersehen wollte, hatte die Zugfahrt gleichzeitig unerträglich lang und sehr viel angenehmer gemacht. Ich freute mich. Deswegen stand ich schon lange an der Tür, als der Zug in den Bahnhof einfuhr und wartete ungeduldig, während der Zug langsamer und langsamer wurde. Ich konnte es nicht erwarten, Lukas zu erzählen, dass Kim ihn jetzt für Niklas hielt und wie unmenschlich schwer es gewesen war, ihr wieder und wieder ins Gesicht zu lügen. Sie war eben Kim. Sie kannte mich gut genug, um nicht zu übersehen, dass mein Gesicht wieder und wieder geglüht hatte, wann immer ich wahlweise an Lukas gedacht oder sich der Gedanke aufgedrängt hatte, dass ich ihr vermutlich irgendwann würde erzählen müssen, dass ausgerechnet Lukas diesen hormonellen Ausnahmezustand in mir hervorrief, den andere Menschen Verliebtheit nannten und der auf jeden Fall mit getrübtem Urteilsvermögen und Konzentrationsschwächen einher ging. Während der Zugfahrt hatte ich versucht zu lernen, aber meine Gedanken waren wieder und wieder derart abgeschweift, dass ich ihren Inhalt niemals nie mit Kim geteilt hätte. Mit Lukas schon eher, aber auch nur sehr dosiert. Ich wollte ihm nicht gleich aufs Brot zu schmieren, dass ich trotz bestem Wetter, trotz Nordseestrand, Pferden und meiner besten Freundin, mich mehr als einmal bei dem Gedanken erwischt hatte, dass ich das Wochenende lieber mit ihm verbracht hätte. So von Freitagabend bis Montagmorgen und ganz sicher sehr alleine.

Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, passte ich den Moment, in dem die Türen sich zischend vor meiner Nase öffneten, exakt ab, holte einmal Luft, schüttelte diese sehr dominanten Ideen in meinem Kopf ab und setzte meine Sonnenbrille auf, bevor ich auf den Bahnsteig trat. Ich brauchte mich nur einmal umzudrehen, dann sah ich Lukas an der Treppe stehen. Er sah mich, hob lächelnd die Hand- und meine Coolness war definitiv nur noch Fassade.




Wir hatten uns noch am Hauptbahnhof etwas zu essen organisiert und waren von dort aus zum Nordhafen gefahren, wo wir beide die gleiche Nudelbox mit Gemüse und scharfer Soße aßen. Ich merkte selbst, dass Lukas in den ersten Minuten kaum zu Wort kam, aber als ich mich dafür entschuldigte, winkte er ab. „Erzähle nur. Ich kann zuhören."

Also erzählte ich von Kim und den Hunden, an die sie ihr Herz verschenkt hatte. Ich redete eine Menge darüber, wie eifersüchtig Kim war und ging von da aus zu dem Thema über, dass mich das ganze Wochenende beschäftigt hatte: dass ich kein Wort über uns verloren hatte und dass es mir manchmal verdammt schwer gefallen war. Ich hatte damit gerechnet, ihm mit dem Thema ein breites Lächeln entlocken zu können, aber er guckte ernst aufs Wasser, während er langsam nickte.

„Was ist?", fragte ich. „Hat sie was gemerkt? Hat sie sich bei dir gemeldet? Oder...?"

Lukas schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts von ihr gehört.", sagte er langsam und verdächtig nachdenklich. Er sah so ernst aus, dass ich einfach wusste, dass irgendetwas nicht stimmte.

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