Kapitel 2: Licht und Schatten (3)

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Nervös vergrub ich meine Hände in den Taschen meiner neuen Jacke und presste meine Kiefer aufeinander, als ich am ersten Schultag nach Weihnachten neben Julian auf den grün angestrichenen Neubau zuging. Meine Augen richtete ich eilig auf meine abgetragenen alten Schuhe, während wir den Schulhof überquerten. Die Schuhe waren das einzige an mir, dass alt war. Sina hatte mich nach Weihnachten in die Stadt geschleift. Den ersten Stopp hatten wir beim Friseur eingelegt. Meine Haare waren jetzt so kurz, dass sie mir nicht nur nicht mehr in die Stirn fielen, sondern von meinen Locken nichts mehr zu erahnen war. Ich hasste diese kringeligen Engelslocken. Sie verleiteten jeden dazu, mir ständig in die Haare zu fassen. Selbst die Mutter von Sina, die gemeinsam mit ihrem Mann einen Weihnachtsbesuch bei uns gemacht hatte, hatte bei Kaffee und Kuchen begeistert zugepackt und damit bei mir einen übermächtigen Fluchtinstinkt ausgelöst. So schnell würde ich sie vermutlich nicht wiedersehen. Nachdem also meine Haare der Schere zum Opfer gefallen waren, hatte Sina mir ungefähr einen Reisekoffer voll neuer Klamotten gekauft. Ich war vor Scham fast gestorben, während sie ununterbrochen mehr und mehr Pullover, T-Shirts und Hosen zum Anprobieren angeschleppt hatte, aber sie hatte trotzdem nicht lockergelassen. Um dem Schrecken schnellstmöglich zu entgehen, hatte ich irgendwann einfach alles abgenickt, was sie für gut befand und so wenig wie ich mich von meinen alten Sachen hatte trennen wollen und so fremd und steif sich der Stoff der neuen Jeans jetzt auch auf meiner Haut auch anfühlen mochte, war ich doch froh, dass meine Hosenbeine jetzt lang genug waren und die Ärmel meines Pullovers sicher alles verdeckten, was ich niemals preisgeben wollte. Der Neue zu sein war nie ganz ungefährlich. Allerdings war ich schon so oft der Neue gewesen, dass mich das alleine nicht aus der Bahn geworfen hätte, selbst dann nicht, wenn ich in Badelatschen hätte in die Schule gehen müssen. Was mich jedoch in Angst versetzte war, dass ich seit den letzten Sommerferien keinen Fuß mehr in eine Schule gesetzt hatte. Ich hatte zwar die Klinikschule besucht, aber ich war nicht naiv genug, um zu glauben, dass ich nichts verpasst hatte. Zumal ich weder eine Schulform, noch eine Klassenstufe downgradete- zumindest erstmal nicht. „Alles in Ordnung, Lukas?", fragte Julian, als wir den Neubau erreichten und er mir die Tür aufhielt.

Ich nickte, aber das „Ja" geriet lautlos. Also nickte ich nochmal kräftiger und folgte dann mit ihm der Beschilderung, bis wir vor dem Sekretariat standen. Während Julian mit der Sekretärin sprach, deren Frisur frappierende Ähnlichkeit mit einem großen Pilz aufwies und deren winzige Augen hinter den Gläsern einer kleinen, runden Brille noch kleiner wurden, drückte ich mich an die Wand, wartete und wünschte mich in mein Bett. Ich rührte mich nicht, bis die Schulleiterin auftauchte, erst Julian und dann mir ihre Hand entgegenstreckte und dann innerhalb von dreißig Sekunden erklärte, in welche Klasse ich gehen würde. Vor der Tür würde mein Klassenlehrer schon auf mich warten. Sie verlor im trubeligen Sekretariat kein Wort darüber, dass ich ein Pflegekind sei und verzichtete auch auf Beileidsbekundungen oder Hilfsangebote, was ihr einen echten Bonus gegenüber den anderen Schulleitern einbrachte, deren Hände ich zuletzt geschüttelt hatte. Sie schubste uns zum Abschied fast aus der Tür und Julian hob die Hand in meine Richtung, als ein Mann mit grau-blonden Haaren und abgewetzten Lederschuhen an der gegenüberliegenden Wand lehnte und offensichtlich auf mich wartete. Neben ihm stand ein Mädchen in Jeans, schwarzem Rollkragenpulli und mit schulterlangen, roten Locken und musterte mich mit unverhohlener Neugier.

„Ich hole dich ab, Lukas.", sagte Julian mit einem aufmunternden Lächeln in meine Richtung und ich nickte stumm. „Wenn was ist, dann rufe an, ja?", setzte er noch hinterher und ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Ja, sicher. Wenn ich den Schultag nicht ohne Heimweh packe oder die anderen gemein sind, dann rufe ich dich an. Peinlich.

„Ja, doch.", erwiderte ich gereizter als beabsichtigt, krallte meine Finger in meine Handflächen und sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war.

„Du bist also Lukas?" Mit den Worten stieß mein Klassenlehrer sich mit einem Lächeln von der Wand ab. „Ich bin Herr Mattern und das ist Inga. Inga ist unsere -oder besser deine- Klassensprecherin." Er reichte mir die Hand und ich rang mir ein kurzes „Hallo" ab.

„Wenn du Fragen hast, helfe ich dir gern.", sagte Inga mit einem strahlenden Lächeln und verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, während wir uns in Bewegung setzen und Herrn Mattern Richtung Klassenzimmer hinterherliefen. So wie sie lief, so wie sie schaute war unübersehbar, dass ihr Selbstbewusstsein allein ausgereicht hätte, um damit einen ganzen Klassenraum auszufüllen. Vermutlich war sie die Anführerin der coole-Mädchen-Gang, die es in jeder Klasse gab und die sie klassischerweise auch zur Klassensprecherin gewählt hatte. Sie zog kaum merklich die Augenbrauen hoch, als ich nichts auf ihr Angebot erwiderte, zuckte dann aber mit den Schultern. „Hattest du schöne Weihnachten?", fragte sie und überging damit mein Schweigen.

„War okay, ja.", erwiderte ich und sah nach rechts und links, während wir einige Treppen hochstiegen, mehrere Türen passierten und mehr als einmal abbogen. Ich hatte längst die Orientierung verloren. Inga bemerkte meinen ratlosen Blick und fing an zu erklären, dass wir am Musikraum vorbeigelaufen waren, die Naturwissenschaften ein Stockwerk darüber waren und man zur Cafeteria kam, wenn man zweimal rechts und einmal links abbog und dann die Treppe herunterlief. Ich nickte nur, ohne zu verstehen, was sie sagte. Sie grinste, als sie es bemerkte und ihre hellbraunen Augen bekamen einen vergnügten Glanz. „Du kannst mir auch einfach hinterherlaufen in den ersten Tagen. Das ist schon okay für mich und zu übersehen bin ich ja auch nicht so leicht."

Alles klar. Meine Ohren verfärbtensich rosa und ich war dankbar, als Inga Herrn Mattern in ein Klassenzimmerfolgte, aus dem schon das Stimmengewirr meiner neuen Klassenkameraden drang


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Eine Inga, eine neue Schule und ein eingeschüchterter Lukas.

Wer hat Sehnsucht nach der Schule? :D

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