Kapitel 12: Sicherheitsnetz

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Lustlos unterschrieb ich meine Stundenzettel für das letzte halbe Jahr, schickte noch eine Mail mit den neusten- und wohl letzten- Simulationsdaten weg, die ich als Hilfskraft für meinen Prof je rechnen würde, fuhr den Laptop herunter und klappte ihn zu. Mein Blick ging jetzt unverstellt aus dem Fenster- ins andauernde, anhaltende Grau. Es regnete seit Tagen jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sah. Der graue Schleier, der alles dämpfte und abdunkelte, wickelte mich ein und isolierte mich gründlicher, als ich es sonst geschafft hätte. Niemand ging weg, niemand kam vorbei. Daniel und Juan nutzten das miese Wetter und vergruben sich beide in der Bibliothek, arbeiteten an ihren Abschlussarbeiten und ließen mich in Ruhe. Es war nicht so, dass Lena mir nicht geschrieben und gefragt hätte, ob ich nicht auf Pizza und Bier vorbeikommen wollte, aber sie wollte ich noch weniger sehen als Daniel. Und auf beide zusammen- und darauf wäre es hinausgelaufen, wenn ich die Einladung angenommen hätte- hatte ich keinen Nerv. Dazu kam, dass ich keine Ahnung hatte, ob Ink und Lena Kontakt hatten und ob mich ein Verhör erwartet hätte. Ich wollte nicht davon erzählen, was in Berlin passiert war- und daran änderte sich auch mit zunehmendem Abstand nichts. Ich war seit fast drei Wochen wieder zuhause, arbeitete, wartete auf meine Abschlussnote und wollte noch weniger über Berlin sprechen als an dem Tag, an dem ich aus dem Zug gestiegen war. Daniel und Lena kannten Inga und ich war mir absolut sicher, dass sie unter keinen Umständen gewollt hätte, dass der Inhalt unseres Gesprächs in unserem Freundeskreis die Runde machte. Es ging nicht länger darum, wer mit wem abgestürzt war und auch nicht darum, wer wem den ersten Job weggeschnappt hatte. Es ging auch nicht länger um Themen wie schwerkranke Verwandte, tote Haustiere, den Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit oder Tierversuche. Es ging um Ink, sehr konkret um Ink und ihre Zukunft, aus der sie mich herausgestrichen hatte. Aus einem Grund, der für die meisten von uns überhaupt erst sehr langsam eine vage Relevanz bekam. Seufzend stand ich auf, nahm auf dem Weg in die Küche das dreckige Geschirr vom Vorabend mit in die Küche und stieß mich unterwegs nicht nur einmal daran, dass ich alleine in dieser Wohnung war, die so lange ihr und mein Zuhause gewesen war. Und trotzdem hatte sie nichts gesagt. Sie hatte einfach nichts gesagt. Mein Verstand schlug nicht zum ersten Mal seit meiner Rückkehr unsanft gegen diese Tatsache, nur um sich danach daran festzuhaken, dass ich die Frau in dieser Berliner Wohnung nicht erkannt hatte und nach wie vor nicht glauben wollte, dass das Ink sein sollte. Es war nicht die Inga gewesen, die ich kannte und die ich nachts noch immer vermisste. Seit Marie weg war, spürte ich das. Seit Marie weg war, wurde ich nachts wach und griff ins Leere, wenn ich Ink gewohnheitsmäßig an mich ziehen wollte. Seit nicht nur Marie weg war, sondern ich aus diesem Zug ausgestiegen war, wurde ich nicht mehr wach in der Nacht. Dazu hätte ich vorher einschlafen müssen. Die Nacht in diesem Berliner Hostel war nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was sich seither jede Nacht wiederholte und die Nervosität, die sich in jener Nacht mit mir ins Bett gelegt hatte, hatte sich längst zu jener Anspannung ausgewachsen, die sich wie Blei auf mich legte und mich gleichzeitig unter Starkstrom setzte. Auf einmal steckte ich in einem Spannungsfeld fest, dass eigentlich vor einer kleinen Ewigkeit seine Kraft und damit seinen Schrecken verloren hatte. Jetzt aber hatte die Wucht, mit der es sich wiederaufgebaut hatte, mich im Griff. Ich ging nicht Laufen. Ich ging nicht Klettern. Stattdessen hatte ich mich an einem dieser grauen Tage ins Auto gesetzt. Ich hatte im strömenden Regen auf dem Friedhof gestanden und stumm um Antworten gebeten, bevor mich die Erkenntnis überwältigt hatte, dass ich keine Blumen mitgebracht hatte. Ich war bis auf die Knochen nass gewesen und hatte an nichts als einen nagelneuen Führerschein und sonnengelbe Blumen denken können. Danach war ich- einmal mehr auf Autopilot und gegen den Sekundenschlaf kämpfend- in ein nagelneues Wohngebiet gefahren. Häuser, große Garagen, noch größere Autos und kalte, graue Steingärten standen dort, wo mal Obstbäume, Weiden, Stallgebäude und ein Bauernhaus gewesen waren. Nichts war davon übrig gewesen. Das Leben endet, die Liebe nicht. Der Spruch auf dem Grabstein meiner Eltern hatte nie weniger bedeutet als in diesem Augenblick, in dem ich sah, wie acht- und ahnungslos unser Zuhause zubetoniert worden war. Es war in dem Moment, in dem ich realisiert hatte, worauf ich blickte, ein zweites Mal in Flammen aufgegangen.


Nachlässig und merkwürdig taub spülte ich das Geschirr, während ich noch einmal jene Frau vor mir sah, an deren Tür ich Minuten nach meiner Entdeckung der Betonwüste geklingelt hatte. Das Unverständnis in ihren braunen Augen, das Nichterkennen. „Kann ich Ihnen helfen?"

Sprachlos hatte ich erst den Kopf geschüttelt und dann das erstbeste gefragt, was mir eingefallen war: wie ich am schnellsten zum Schwimmbad käme. Ich hätte mich verfahren.

Die Frau hatte mich angestarrt, als hätte sie befürchtet, ich würde insgeheim einen Überfall auf sie planen. „Das gibt es nicht mehr. Das hat zu. Schon seit Jahren."

Stammelnd und entschuldigend hatte ich den Rückzug angetreten, war in mein Auto gestiegen und zurückgefahren.

Seitdem dachte ich darüber nach, ob das zu den Antworten zählte, um die ich gebeten hatte. Alles war weg. Nichts war übrig. Unser gemeinsames Leben und die Spuren, die daran erinnert hatten, waren zugeschüttet worden, während ich noch daran festgehalten hatte. Während ich, wie Ink gesagt hatte, in einem Sicherheitsnetz gelegen hatte. Vielleicht war es nicht richtig und vielleicht war es nicht fair. Vielleicht hatte Ink einen Punkt gehabt, als sie das Verhältnis von mir zu Julian und Sina gezeichnet hatte. Vielleicht erwartete ich verdammt viel von den beiden für das, was sie von mir bekamen. Ganz sicher war dieser Gedanke der ausschlaggebende Grund dafür, dass ich mein klingelndes Handy ignorierte, nach dem Spülen unter die Dusche stieg, mich danach mit meinem Laptop ins Bett legte und versuchte, über der Netflix-Bibliothek doch noch in den Schlaf zu finden.  

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Ob er die Augen zukriegt, unser Lukas?

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