Pia
Mehrere Kilometer Abstand zu meinem Handy fühlten sich fantastisch an. Keine Anrufe von Lukas und keine Nachrichten, auf die ich nicht antworten sollte, aber auf die ein kleiner Teil von mir vor ein paar Stunden noch unbedingt hatte reagieren wollen. Dieser Zwiespalt hatte sich aufgelöst, zusammen mit der Müdigkeit, die mich nach einer langen Woche in der Uni und zwei Schichten im Café am Samstag und Sonntag beschlichen hatte. Ich hatte mich nach mehr Wochenende gesehnt, nach Wochenende vom Wochenende, nach einem ruhigen Kopf und nach Zuhause. Wobei ich nicht gewusst hätte, wo zuhause gerade eigentlich war. In Berlin sicher nicht. Bei meinem Vater noch viel weniger. In Hamburg? Schon eher. Aber eigentlich wusste ich, dass ich mich weniger nach einem Ort sehnte, als nach einer Person und einer Zeit sehnte, die ich nicht zurückbekommen würde. Dieser Sonntag war einer der Tage, an dem ich meine Mutter so sehr vermisste, dass ich es nicht wegschieben konnte- und darin war ich sonst so meisterhaft gut, dass ich darüber manchmal ein schlechtes Gewissen bekam. An diesem Sonntag aber, als das Ende der Schicht bei der Arbeit erreicht gewesen war, hatte ich nicht nach Hause gehen wollen. Ich war reizbar und dünnhäutig gewesen, obwohl es keinen konkreten Anlass gegeben hatte. Eigentlich hatte ich in die WG fahren und mit Martin und Jasja ein Picknick im Park machen wollen, aber darauf hatte ich plötzlich keine Lust mehr gehabt. Jede Alternative, die ich mir ausgemalt hatte, war genauso mies gewesen. Ich hatte nichts tun wollen, inklusive nach Hause gehen und mich dort im Bett verkriechen. Nichts hatte sich richtig angefühlt und erst als Lin mir erzählt hatte, dass sie in den Semesterferien ihre Familie, die in Frankreich lebte, besuchen würde, war mir aufgegangen, weswegen für mich gerade nichts richtig sein konnte. Ich wollte nicht in den Park, nicht ins Kino und nicht ins Bett. Ich wollte jemanden anrufen, den ich nicht anrufen konnte. Ich wollte jemandem davon erzählen, dass ich in einen Typen verliebt war, mit dem ich seit einer Woche kein Wort mehr gewechselt hatte, weil da ein potenzielles Kind im Raum stand. Ich wollte davon erzählen, dass Viktor sich gemeldet und von einem Kurztrip nach Berlin geschrieben hatte und hören, dass ich doch gar nicht mit dem Gedanken spielen sollte, ihm zu antworten. Aber ich konnte meine Mutter nicht anrufen und sie konnte mir nicht zuhören. Und egal, wie genau ich das wusste, wie tief verwurzelt dieses Wissen in mir war, so heftig konnte mich das Gefühl des Vermissens überfallen, wenn es sich nur geschickt genug von hinten anpirschte.
Ich hatte noch hinter der Theke die Fassung verloren und losgeheult. Lin war völlig schockiert gewesen- und ich nicht minder. Auf dem Mitarbeiterklo hatte ich versucht, mich ungesehen zu beruhigen, ich hatte meine verschmierte Wimperntusche weggewischt und gegen diese verdammte Übelkeit angekämpft, die nichts mit meinem Magen und alles mit meinen Nerven zu tun gehabt hatte. Als Lin eine ruhige Minute gehabt hatte, hatte sie nach mir gesehen. Ob sie was tun könne. Ob sie etwas Falsches gesagt habe. Ob es mir besser ginge, wenn sie einen Typen erschießen würde. Ob ich ein Problem mit meinem Studium hätte. Ich hatte den Kopf geschüttelt und mir kaltes Wasser über die Hände laufen lassen.
„Es ist alles gut.", hatte ich gelogen.
„So sieht es nicht aus."
„Ich vermisse nur jemanden."
„Deinen Freund?", fragte sie weiter und dachte dabei vermutlich an Lukas.
„Ich habe keinen Freund." Vermutlich stimmte das.
„Wen dann?"
„Meine Ma. Ich vermisse meine Ma. Und nein, ich kann sie nicht anrufen oder hinfahren oder sonst was." Den letzten Satz hatte ich hinterhergeschoben, als Lin gerade zu einer Antwort hatte ansetzen wollen. „Ich will nicht drüber reden.", hatte ich dann gemurmelt, als Lin betroffen geschwiegen und sich auf ihre Unterlippe gebissen hatte.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Lin den Tag retten würde, zumindest so gut, wie man diese Tage, an denen mir die Realität mit der Abrissbirne vor den Kopf schlug, eben retten konnte. Lin hatte magische Fähigkeiten. Vielleicht eher gute Kontakte oder auch einfach nur eine wirklich gute Freundin. Und sie merkte sich, was man ihr erzählte. Das Ergebnis war, dass ich in einer Reithalle stand, meine Unterarme auf der Bande abstützte und mit dem Blick einem Pferd folgte. Mein Handy lag unterdessen in der Wohnung von Lin und ihrer Freundin und das Pferd, das sich von mir anstarren lassen musste, war das Pferd von Lins Freundin und deren Mutter. Während ich Lins Freundin, Helena, beim Reiten zusah, ab und an eine lästige Fliege verscheuchte und ansonsten den Geruch von Fliegenspray, Pferd und feuchtem Hallenboden einatmete, fühlte ich die Leere nicht mehr so. Es war wie die ersten Monate in Hamburg, als ich mich nur bei Niro ansatzweise normal gefühlt hatte. Ein Trip in den Stall war für mich immer ein Trip in eine Zeit, in der noch alles normal gewesen war. Selbst jetzt, wo ich nichts anderes tat, als fremden Leuten beim Reiten eines fremden Pferdes zuzusehen.
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Lieblingstag
Novela JuvenilInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...