Ich tippte Zeile um Zeile und Nachricht um Nachricht, nur um dann doch wieder zu löschen, was ich geschrieben hatte. Der Inhalt variierte. Von Jederzeit. Melde dich, wenn du Zeit hast. Ich hoffe, es geht dir gut. über ein schlichtes Vielleicht irgendwann bis hin zu Habe ich dich eigentlich je gekannt? war alles dabei. Ich hatte keine Ahnung was ich wollte und ob meine Sorge um sie, meine Wut oder meine Hoffnung auf dieses andere Ende für uns beide überwog. Irgendwann mitten in der Nacht schlief ich tatsächlich darüber ein. Ich spürte noch, wie mir das Handy aus den Fingern glitt, aber gleichzeitig war ich schon so weit weg, dass ich mich nicht mehr dazu aufraffen konnte, es irgendwo sicher außerhalb meines Bettes zu platzieren. In der Nacht rollte ich mich vermutlich ungefähr zwanzig Mal darüber und als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, bereute ich, am Vorabend überhaupt das Ding wieder in die Hand genommen zu haben. Das Gefühl hinter meiner Stirn glich jedenfalls einem gewaltigen Kater und meine Augen waren trocken, rot und brannten. Ich kam gar nicht erst auf die Idee zu versuchen, mir meine Kontaktlinsen einzusetzen und griff lieber gleich nach meiner Brille, bevor der Tag noch unangenehmer werden konnte. Ich schnappte mir meine Stalljeans und einen alten Pulli, zog beides an und ließ mir vom Spiegel am Kleiderschrank sagen, dass ich wirklich noch nicht wieder bereit für mein Handy war. Oder für Inga. Meinen Bart hatte ich zwar gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft zuhause abgemacht- Julian hatte mir seinen Rasierer quasi aufgedrängt, was ein todsicheres Zeichen dafür war, dass ich relativ furchtbar ausgesehen haben musste- und ich sah trotz der miesen Nacht lange nicht mehr so abgespannt aus. Die Schatten unter meinen Augen hatten sich verflüchtigt und mein mir entgegenstarrendes Ich sah mir rat- und planlos, aber immerhin ruhig entgegen. Wären meine Augen nicht rot gewesen und meine Haare nicht immer noch ungewohnt lang, dann hätte ich fast ausgesehen wie immer. Fast. Ich zog die Augenbrauen zusammen und suchte nach dem klar benennbaren Unterschied, dem einen Merkmal, das mein Gesicht für mich selbst sichtbar verändert hatte. Die letzten Wochen hatten scheinbar ihre Spuren in meinen Ausdruck, in mein Gesicht gezogen. Gleichermaßen beunruhigt und fasziniert starrte ich mich an, als Felix einmal laut gegen die Tür klopfte und sie keine halbe Sekunde später aufriss. Ihm hatte die Nacht auf dem Teppich offenbar genauso wenig gut getan wie mir die Nacht auf meinem Handy.
„Inga hat gerade hier angerufen.", platzte es aus ihm heraus, kaum dass er sah, dass ich auf den Beinen war. „Vor einer Stunde. Da hast du noch geschlafen. Ich habe gesagt, dass du zurückrufst, wenn du Zeit hast, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen soll, aber...."
„Du hast ihr gesagt, dass ich hier bin?!"
„Sie wusste, dass du hier bist, das musste ich ihr nicht sagen."
Ich sollte sie zurückrufen. Die Hoffnung auf dieses andere Ende meldete sich so laut und vehement, dass ich fast auf Autopilot mein Handy gegriffen und ihre Nummer gewählt hätte. Ein weiteres Fast. Ich hätte fast ihre Nummer gewählt, so wie ich fast noch aussah wie ich selbst. Aber eben nur fast.
„Aber du rufst sie nicht an, oder?" Felix musterte mich argwöhnisch und wartete sichtlich angespannt auf meine Antwort. „Du musst sie nicht anrufen, nur weil sie Inga ist. Du kannst sie auch einfach nicht anrufen und sie vergessen. Denk dran, du kannst auch einfach mit jemand anderem zusammen sein. Außerdem hat sie doch einen neuen Freund und..."
Ich hob die Hand, um Felix zu unterbrechen, der damit angefangen hatte all die Punkte herunterzurattern, die gegen Inga sprachen.
„Felix..."
„Außerdem kannst du sie nie wieder hierher mitbringen. Das weißt du schon, oder? Hier ist kein Platz mehr für sie."
„Felix!", sagte ich warnend und er verstummte, als ich den Kopf schüttelte. „Das entscheide ich, okay?"
„Und wie entscheidest du dich?" Er zog fast angriffslustig seine Augenbraue hoch, was mir noch schwerer machte, was ich als nächstes tat: Ich ließ mein Handy im Bett liegen, das tief vergraben unter meinem Kopfkissen und meiner Decke lag, ging am Zwerg vorbei in die Küche, wo ich ihm und mir Frühstück machte und unter seinem ungläubig-zufriedenen Blick demonstrativ ruhig Kaffee trank. Das mein Magen dabei rebellierte und mein Herzschlag unruhig gegen meine Rippen trommelte, entging ihm zum Glück. Genauso wie ihm, als er nach dem Frühstück in den Stall verschwand- entging, dass ich mich wieder in meinem Bett zusammenrollte und mein Finger wieder und wieder über dem Anrufbutton schwebte. Ich wollte mich gerade dazu durchringen, sie endlich anzurufen, als eine neue Nachricht von ihr aufploppte.
„Dein Bruder hat dir ausgerichtet, dass ich angerufen habe?"
„Ich dachte, für dich habe ich gar keinen Bruder?" Die Nachricht war schneller getippt und abgeschickt, als ich hatte denken können. Meine Finger waren einfach schneller gewesen als mein Kopf- und so geschockt, wie ich auf meine eigene Nachricht starrte, so klar spürte ich in dem Moment, dass Felix damit recht gehabt hatte, dass es kein Zurück mehr gab. Als ich sah, wie sie anfing, eine Antwort zu tippen, waren meine Finger meinem Kopf wieder einen Schritt voraus. Vermutlich, weil sie von einem smarten Überlebensinstinkt gesteuert wurden. „Es ist alles gesagt, Ink. Ich wünsche dir alles Gute."
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Er wünscht ihr also alles Gute.
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...