Kapitel 9: Blau (5)

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Wir waren einen schmalen Pfad entlanggeritten, der sich steil bergauf- und bergab zwischen engstehenden Bäumen hindurchschlängelte und während Galina und Rubinstein konzentriert kletterten, schwiegen wir beide. Julian dachte offensichtlich nach und ich bereute, die Sache mit der Erleichterung überhaupt ausgesprochen zu haben. Erst, als wir wieder auf einem der breiteren Hauptwege auskamen, wandte sich Julian, der vorgeritten war, zu mir um.

„Weißt du, was mein zweiter Gedanke gewesen ist, als ich damals erfahren habe, dass Sina sich bei ihrem Unfall so schwer verletzt hat, dass es ihre aktive Karriere beendet?"

Ich schüttelte stumm den Kopf. Die Frage kam unvermittelt und ich sah wirklich keinen Zusammenhang zu Inga und Berlin.

Zum Glück." Er parierte durch, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte und ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie heftig ich diese Aussage fand. Der Unfall war schlimm gewesen- und Sina erkaufte sich ihre Schmerzfreiheit ziemlich oft mit ziemlich hartem Zeug. Der Unfall war kein Scherz gewesen und hatte sie garantiert mehr gekostet, als nur aktive Zeit im Sport. „Sie hat bis heute Schmerzen deswegen.", sagte ich deshalb und warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

„Das habe ich damals doch noch nicht überblickt. Damals dachte ich, unser Problem miteinander hätte sich mit diesem einen Schlag aufgelöst. Damals dachte ich, dass sie sich damit arrangieren wird, dass sie eben andere Reiter trainieren und mir vielleicht noch die Buchhaltung abnehmen wird, während sie sich nachmittags um euch kümmert."

„Dein Ernst?", schnaubte ich ungehalten. Sina hatte die Sache mit der treusorgenden Mutter und Hausfrau kein halbes Jahr ausgehalten und ich konnte nicht glauben, dass ausgerechnet Julian darauf gebaut hatte, dass sich die Dinge schon fügen würden.

„Stark überspitzt formuliert, aber ja. Ich habe gedacht, es wird schon alles, weil eben das Problem aus der Welt geschafft ist. Ich wusste, wie hart sie das trifft. Ich habe aber auch gedacht, dass das vorbeigeht. Dass sie sich schon daran gewöhnt. Und ganz sicher habe ich gehofft, dass sie sich in diese neue Aufgabe so verliebt hätte, wie ich es an ihrer Stelle getan hätte. Ich habe naiv und bequem darauf gesetzt, dass sie die Vorteile schon schätzen lernen und zufrieden sein wird." Er lächelte schief und sichtlich reumütig. „Unnötig zu sagen, dass es uns die Paartherapie nicht erspart hat und ich eben aushalten muss, dass Sina andere Dinge zufrieden machen als mich."

„Weiß sie, was du damals gedacht hast?", fragte ich und konnte mir nicht vorstellen, dass Julian dieses Geständnis, was ich schon schwer auszuhalten fand, überlebt hatte. Galina lauschte unserer Unterhaltung mittlerweile wieder mit zurückgeklapptem Ohr, während Steinchen immer wieder milde interessiert zu ihr herüberschielte. Charmeur.

„Das weiß sie.", bekräftigte er und nickte. „Darauf will ich hinaus. Weißt du, wir haben irgendwann die Karten auf den Tisch gelegt und ausgesprochen, was die neue Situation mit ihr und uns macht. Sie wusste schon vorher, ohne dass ich ein Wort hätte aussprechen müssen, was mir damals direkt nach sie lebt und läuft durch den Kopf gegangen ist und hatte ihre eigene Meinung dazu. Unsere Frauen kennen uns meistens so gut, Lukas, dass man solche Dinge nicht laut sagen muss. Ich wette, dass Inga ein ziemlich feines Gespür dafür hat, dass du insgeheim erleichtert bist und sich ihren Teil dazu denkt. Also sprecht miteinander. Spielt nicht Minesweeper gegeneinander. Sina und ich haben das zu lange gemacht. Seit wir offen miteinander sind, sind die Dinge einfacher." Als er auf mein sich daran anschließendes, nachdenkliches Schweigen damit reagierte, mich zu fragen, wie lange Inga und ich denn mittlerweile eigentlich schon zusammen wären, traf er damit einen Punkt, der mich- vor der Sache mit dem Masterplatz- sehr viel mehr beschäftigt hatte als Minesweeper. Ink und ich waren seit sechs Jahre zusammen- und das war, zumindest in unserem Freundeskreis- ein biblisches Alter für eine Beziehung. Ingas Eltern, die mich nach anfänglicher, aber hartnäckiger Skepsis so fest in ihre Familie integriert hatten wie auch Nikos Freundin, hatten im letzten Jahr angefangen, Bemerkungen einzustreuen, die unerwartet wenig Nervosität in mir auslösten, obwohl sie eine ziemlich klare Erwartungshaltung vermittelten. Als Inga und ich im Internet nach Wohnungsanzeigen gesucht hatten – noch vor ihrem Bachelorabschluss und noch mit dem Gedanken im Kopf, bald in Berlin eine neue Bleibe suchen zu müssen- hatte ihr Vater halbernst gemeint, dass wir doch unsere Kriterien überdenken sollten. Vielleicht lieber etwas größeres suchen, etwas mit einem Arbeitszimmer- man könne das bei Bedarf ja sicher später umfunktionieren. Und als Ingas Cousine bei einem Familientreffen begeistert davon erzählte hatte, wie ihr Freund ihr auf der Zugspitze einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte Ingas Mutter mir -natürlich auch nur halbernst- empfohlen, dass für ihre Tochter doch weniger rustikal aufzuziehen. Diese Dinge waren lange nicht mehr so absurd weit weg wie noch mit achtzehn und in meinem Kopf drehte sich – langsam und meist sehr zurückhaltend- ein Karussell mit Fragen, die Ink und ich nie thematisiert hatten. Wenn wir davon sprachen, wo wir uns in fünf Jahren sahen, dann bezog sich das Thema auf unser Studium oder den Job, den wir dann hoffentlich hatten. Vielleicht noch auf die Traumwohnung mit wirklich guter Kaffeemaschine, Badewanne und Fußbodenheizung oder auf Urlaube, die wir miteinander machen wollten. Wir waren eben jung- Langzeitbeziehung hin oder her. Vielleicht auch deshalb hatte dieses Gespräch – in ernsthafter Form und in nüchtern- bisher nie weiter geführt. Klar hatten wir einander mal gefragt, ob wir prinzipiell heiraten wollten und prinzipiell Kinder haben wollten- aber es war immer sehr abstrakt und sehr weit weggewesen. Klar Heiraten und klar Kinder- irgendwie und irgendwann. Aber jetzt, ausgerechnet jetzt, wo zum ersten Mal ein schweres, andauerndes Schweigen zwischen uns stand und betäubte, was sonst so gut zwischen uns war, war ich mir nicht sicher, wie abstrakt und unwichtig diese Fragen waren. Die Stadt, in der ich lebte, war mir nicht wichtig. Großstädte reizten mich nicht. Mein Anspruch an meinen Job war, dass ich ihn öfter mochte als nicht und damit genug Geld bei genug Freizeit hatte, um für eine Familie sorgen zu können. Und Teil dieser Familie war – in meiner Wunschvorstellung der Zukunft- Inga. Inga hingegen schien an der Vorstellung in Berlin zu leben zu kleben und sie hatte sehr viel klarer definierte Karriereziele. Vielleicht mochte ich deswegen nicht aussprechen, dass ich dieses vermeintliche Versagen, diese verpasste Chance anders empfand als sie. Ich war mir, zum ersten Mal, nicht sicher, wie viel Verständnis wir füreinander haben würden, wenn wir – Julians Ratschlag folgend- die Karten auf den Tisch legen und die Minen freilegen würden. Bis zu diesem Tag, an dem ich ihr meinen Glücksbringer geliehen und auf den Treppen vorm Institut auf sie gewartet hatte, hatte zumindest ich von deren möglicher Existenz nichts geahnt. 


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Au weh. Julian war damals nicht unglücklich darüber, dass seine Frau folgenreich vom Pferd gescheppert ist und Lukas und Inga spielen ein hochexplosives Spiel - oder vielleicht doch nicht? ;)

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