Kapitel 27: Wunder (3)

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Lukas



Seit zwei Wochen arbeitete ich von zuhause aus. Mein Gesicht sah wieder aus wie vor meinem Zusammenstoß mit Mark. Die Fäden waren gezogen und die blauen Flecken fast restlos verblasst. Mein Nacken allerdings tat immer noch weh, unabhängig davon, in welche Richtung ich meinen Kopf eigentlich drehen wollte.

Als die Schmerzen eine Woche nach dem Zwischenfall noch da gewesen waren, war ich auf das heftige Drängen von Sina hin widerwillig zum Arzt gegangen. Der hatte mich zum MRT überwiesen- und ich hatte klaglos den Termin mit zwei Wochen Wartezeit genommen. Fast ein bisschen trotzig und um ihr zu demonstrieren, dass ich auch wirklich ihren Rat befolgt hatte, hatte ich Sina eine kurze Nachricht mit dem Termin geschrieben. Keine zwei Stunden später hatte sie mir unkommentiert das Datum des Folgetages, eine Uhrzeit und eine Adresse geschickt. An die Adresse hatte ich mich erst wieder erinnert, als ich sie bei Google eingegeben hatte. Sina, oder besser ihr Vater, hatte mir kurzfristig und unbürokratisch einen MRT-Termin bei seinem Nachfolger organisiert. Ich hatte zwischen Belustigung, Erleichterung und Ärger über diese Einmischung geschwankt, war dann aber mit dem Zug nach Hause gefahren. Es hatte einfach wehgetan, egal, wie sehr ich versucht hatte, die Zähne zusammenzubeißen und so ungern ich mir das auch eingestanden hatte, so hatte mich doch die Angst beschlichen, dass die Schmerzen vielleicht nicht nur von verspannten Muskeln kommen könnten.

Am Ende waren Knochen und Bandscheiben an ihrem Platz und meine Erleichterung riesig. Wegen der heilen Knochen, aber auch, weil ich mir nicht vorstellen wollte, wie sehr eine ernsthafte Verletzung das Verhältnis von Mark und mir weiter verkompliziert hätte. Mit den guten Nachrichten im Gepäck hätte ich zurück nach Berlin fahren können- tat ich aber nicht. Denn nicht nur mein Nacken verursachte stechende Schmerzen, sondern auch der Gedanke an Pia und an das Gespräch, in dem wir beschlossen hatten, erstmal Abstand zu halten und den Herbst abzuwarten. Sie war da sehr klar gewesen- und wenn sie es nicht gewesen wäre, hätte ich es sein müssen. Ich wollte nicht, dass sie der Kollateralschaden einer Situation wurde, die ich nicht überblicken konnte. Trotzdem hatte das Gespräch für mich nichts einfacher gemacht. Vorab hatte ich fast damit gerechnet, dass eine emotionale und wütende Pia verbal auf mich losgehen würde, aber die Ruhe, mit der wir besprochen hatten, was für uns gerade das richtige war, hatte mir mehr imponiert, als ich vertragen konnte. Ich vermisste sie. Jetzt, wo ich mich bemühte, ihr nicht zu schreiben oder sie anzurufen, vermisste ich ihre Schlagfertigkeit und ihren schwarzen Humor. Und ihre Loyalität. Und die Küsse. Vielleicht gerade die.



Zuhause war es immer leichter, sich abzulenken. Von Pia, von Mark, und von Inga. Die war längst wieder zuhause mit der Anweisung, es ruhig angehen zu lassen und Stress zu reduzieren. Ich fühlte mich ziemlich schuldig, weil mein Besuch im Krankenhaus sicher nicht zu „weniger Stress" beigetragen hatte und ließ deswegen möglichst wenig von mir hören. Nicht zuletzt, weil ich mit Inga nicht darüber sprechen wollte, wie es bei Pia und mir gerade aussah. Wann immer ich also nicht gerade über meinem Laptop brütete, nahm ich dankbar jede Ablenkung an, die sich ergab. Felix ritt wieder Dressur, nachdem Sina in einer seiner Springstunden der Kragen geplatzt war. Dazu hatte er sich aber erst bereit erklärt, als Julian ihm angeboten hatte, sich aus seinem Training zurückzuziehen. Seitdem verluden Felix und Sina zweimal in der Woche Niro und Fanjana und fuhren zu Julians Reitlehrer zum Training auf dessen Anlage. Das Felix mitten in der noch laufenden Saison Fanjana von Julian übernahm, machte mich stutzig. Julian war mit der Stute noch in Wiesbaden gestartet. Das er sie sang- und klanglos an Felix weitergab und stumm hinnahm, dass der eine betont gleichmütige Miene aufsetzte, wann immer er die Stute ritt, gab mir Stoff zum Nachdenken. Als ich Julian darauf ansprach, zuckte er mit den Achseln und meinte, er habe sowieso darüber nachgedacht, die Stute zum Ende des Jahres aus dem Sport zu nehmen, spätestens zum Ende des nächsten Jahres. Dann könne er es genauso gut vorziehen und Felix könne von ihr lernen. So gäbe es nur Gewinner. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das abkaufte. Stirnrunzelnd betrachtete ich auch, dass der Stall leerer war als gewöhnlich. Ich musste zweimal mit offenen Augen durch die verschiedenen Stalltrakte gehen, bis ich bemerkte, dass nicht weniger Berittpferde als sonst da waren. Es waren weniger eigene. Ich lief an leergeräumten Boxen vorbei, in denen vorher Pferde gestanden hatten, die ich über Jahre gekannt hatte. Darauf angesprochen winkte Julian ab und erwiderte, dass er eben nicht alle Pferde selbst reiten könne- und in diesem Jahr sei ihm und Sina eben ein paar Mal ein Angebot gemacht worden, dass sie nicht hätten ausschlagen wollen. So sei es eben gerade etwas ruhiger. Nicht alle sahen das so gelassen.



Sara, die schon seit fast zwanzig Jahren für Sina arbeitete, gab anlässlich ihres Geburtstages am Freitagabend Sekt und Kuchen für alle aus und ich schloss mich der gemütlichen Runde im Stübchen an. Sie selbst wirkte gelassen, aber ich sah einigen Gesichtern eine ungekannte Anspannung an. Paul allen voran, was ich aber auf die scharfen Blicke schob, die Julian ihm hin und wieder zuwarf. Trotzdem hörte ich vereinzelt Gemurmel. So viele Pferde seien weg. Vielleicht sei das schon länger geplant gewesen. Vielleicht wäre es Sina und Julian zu viel, gerade jetzt, wo man nicht wüsste, ob Kim überhaupt in den Betrieb einsteigen würde. Es hätte ja keiner damit rechnen können, dass die wieder zur Schule gehen wolle. Möglicherweise würde deswegen einer der Stalltrakte verpachtet werden. Möglicherweise würde auch langfristig das Team verkleinert werden. Es war nur Gemurmel, aber es hinterließ ein komisches Gefühl.

Als sich Sara irgendwann auf den leergewordenen Platz neben mir setzte, schenkte sie mir unaufgefordert Sekt nach und lächelte stumm.

„Was?", murmelte ich, als sie nichts sagte.

„Du siehst einsam aus. So ohne deine Geschwister. Das ist ungewohnt."

„Ich bin nicht einsam.", widersprach ich lahm.

„Natürlich nicht." Sie lachte glucksend, bevor sie in Pauls Richtung nickte. „Hast du gesehen, dass er ganz brav Wasser trinkt? Schon die ganze Zeit?"

Hatte ich nicht. Ich schielte möglichst unauffällig in Pauls Richtung und war überrascht, dass der nicht längst ein Bier in der Hand hatte. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder." Hätte er sich in Balve genauso gut an seinem Wasserglas festgehalten, würde ich vielleicht gerade neben ihm sitzen. So ließen sowohl er als auch ich es lieber nicht auf die Konfrontation ankommen.

„Der ist auch einsam, so ganz ohne seine Kim." Sara seufzte tief. „Dummer Junge."

„Ich werde dir nicht widersprechen.", murmelte ich.

„Natürlich wirst du das nicht. Dein Vater wird das auch nicht." Sie wurde ernst. „Sie hatten gestern Interessenten für Rasputin da. Ich war ja davon ausgegangen, dass Paul sich freut, wenn er den los ist, aber er hat das ganz schön persönlich genommen."



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Und? Was ist da los? 🧐

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