Kapitel 28: Ordnung im Chaos (2)

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Pia


Es war schon nach eins, als ich die Tasche mit meinen Klamotten, den Rucksack mit meinem Laptop und meine Jacke aus dem Kofferraum meines Autos nahm. Voll beladen stiefelte ich durch das schiefe Gartentörchen der Doppelhaushälfte. Alles war dunkel, in keinem der Fenster brannte Licht. Wie besprochen visierte ich nicht die Haustür an, sondern bog auf den Rasen ab und umrundete das Haus. Als ich auf der gepflasterten Terrasse stand, ließ ich meine Reisetasche auf den Boden plumpsen, warf die Jacke darauf und bückte mich nach der Fußmatte. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann erst erkannte ich den Schlüssel. Immerhin hatte mein Vater dieses Mal nicht vergessen, ihn rauszulegen. Seufzend räumte ich die Fußmatte wieder an ihren Platz, schulterte meine Tasche wieder und schloss mit einem leisen Klicken auf. Nichts und niemand rührte sich, während ich meine Schuhe an der Tür abstreifte und mit meinem Gepäck erst ins Bad und dann zum Sofa schlich. Irgendwo im ersten Stock hörte ich jemanden schnarchen. Vermutlich meinen Vater. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, ob er schnarchte oder nicht, aber wer auch immer über meinem Kopf Bäume fällte, klang wie ein Mann. Gähnend ließ ich mich aufs Sofa fallen und rieb mir die Augen, die nach der stundenlangen Fahrerei im Dunkeln wehtaten. Müde zog ich die frischbezogene Decke, die über der Sofalehne hing, zu mir heran, kroch darunter und schloss die Augen. Ich hasste es hier zu sein. Ich hasste diese Doppelhaushälfte. Ich hasste den viel zu starken Geruch nach Waschmittel am Bettbezug. Am liebsten wäre ich wieder weggefahren. Entweder direkt nach Hamburg, oder die sehr viel kürzere Strecke weiter zu Kim. Beides kam nicht in Frage. Mein Vater und ich hatten eine Abmachung. Ich musste mich ab und zu blicken lassen. Er sah nicht ein, einem Gespenst Geld zu überweisen. Ich sah nicht ein, meine Zeit bei jemandem zu verbringen, der nur auf dem Papier Familie war. Wir arrangierten uns. Also kam ich ein paar Mal im Jahr vorbei und er überwies mir meistens das Geld, das mir sowieso zustand. Es war für uns beide ätzend. Seine beiden Söhne waren acht und zehn Jahre alt. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich sie kennengelernt und sie seitdem bei einer handvoll Besuchen getroffen. Ich hatte kein Problem mit den beiden, aber wenn mein Vater oder seine Frau betonten, dass die beiden meine Familie und mit mir verwandt waren, dann musste ich mich jedes Mal innerlich zusammenreißen. Wir mochten blutsverwandt sein, aber Familie waren wir nicht. Um des lieben Friedens willen behielt ich diesen Gedanken für mich. Ich spürte, wie ich trotz meiner kreisenden Gedanken langsam zur Ruhe kam und die Wärme der Decke mich einlullte. Widerwillig machte ich nochmal meine Augen auf, kramte in meiner Tasche, die ich halb unter das Sofa geschoben hatte, nach meinem Handy und stellte einen Wecker für den nächsten Morgen. Er würde mich um viertel vor sieben wecken. Früh genug hoffentlich, damit ich aufstehen und mich fertig machen konnte, bevor Leben ins Haus kam.



Den nächsten Vormittag verbrachte ich über ein Lehrbuch und meinen Laptop gebeugt am Esstisch. Das Frühstück war, sehr zu meiner Freude, kurz und hektisch ausgefallen. Die Kinder mussten an einem Freitag natürlich zur Schule, die Frau meines Vaters zur Arbeit und er selbst hatte sich freigenommen. Meinetwegen hätte er das nicht tun müssen. Er hatte mir das Versprechen abgerungen, zum Mittagessen zu bleiben. Ich hatte genickt und hatte behauptet, dann aber am Vormittag für eine Klausur lernen zu müssen. Das stimmte nicht, aber so konnte ich wenigstens einem Gespräch effektiv aus dem Weg gehen. Mein Vater wirkte darüber fast genauso erleichtert, auch, wenn er sich mit mir an den Tisch setzte und anfing, seine Zeitung zu lesen.

„Brauchst du was, Pia?", fragte er gegen zehn, als wir uns schon fast anderthalb Stunden angeschwiegen hatten.

„Nein." Ich schüttelte den Kopf, zog die Schultern hoch und starrte noch angestrengter als zuvor auf den Bildschirm vor mir.

„Möchtest du einen Tee?"
„Nein.", wiederholte ich ohne ihn anzusehen.

Er verfiel wieder in Schweigen und ich atmete auf, als er seine Zeitung umblätterte. Flüchtig sah ich hoch, um mich zu vergewissern, dass er seine Lektüre wieder aufgenommen hatte- und wäre fast zurückgezuckt, als mein Blick den seinen traf. Mein Vater war weder dick noch dünn und seltsam alterslos. Die Zeit war, abgesehen von den Geheimratsecken, relativ gnädig an seinem dunkelblonden Haar vorbeigegangen. Es färbte sich nur an den Schläfen langsam grau. Seine klaren, blauen Augen hatten, zumindest wenn sie mich ansahen, immer einen misstrauisch-prüfenden Ausdruck. Wenn er mich anlächelte, dann lächelten oft nur seine Mundwinkel.

„Bist du sicher?", fragte er nochmal.

„Ja." Eilig senkte ich den Blick wieder, aber ich ahnte, dass ich nicht schnell genug weggeschaut hatte, um ein Gespräch zu verhindern.

„Was macht denn dein Studium?", fragte er, ohne seine Zeitung aus der Hand zu legen.

„Es geht voran."

Er fragte nach Prüfungen und Noten und ich antwortete. Seine Mundwinkel zogen sich zu eben jener Grimasse, die er anscheinend für ein Lächeln hielt, nach oben. „Dann lohnt sich das Investment ja." Es war der Versuch eines Scherzes, der mich nur mit den Schultern zucken ließ.

„Das sieht man dann in fünf Jahren.", antwortete ich lahm. Damit verfielen wir beide wieder in Schweigen und lasen weiter.

Ich war erleichtert, als mein Vater gegen zwölf vom Tisch aufstand und anfing, in der Küche das Mittagessen zuzubereiten. Gleichzeitig war es ein weiterer Piekser, einer der zahllosen Piekser, die eigentlich jeder Besuch bei mir hinterließ. Das hier war seine Familie, um die er sich kümmerte. Ich war die ausrangierte Tochter, die man aufgrund unglücklicher Umstände dann doch irgendwie wieder am Bein hatte. Es war überhaupt nicht schwierig, um übelzunehmen, wie die Dinge damals zwischen seiner Mutter, mir und ihm gelaufen waren. Es wurde nur dadurch anstrengend, dass ich mir gleichzeitig ansehen musste, dass er sich bei seiner neuen Familie so verhielt, wie er es damals nicht getan hatte. Ich stand ruckartig auf und schlug mein Buch zu, als es mir zu viel wurde. Ich packte beides in meinen Rucksack, der auf meiner bereits wieder gepackten Tasche stand. Am liebsten hätte ich mir den Riemen über die Schulter geschmissen, wäre ohne Abschiedsworte aus der Tür spaziert und hätte mich erst in ein paar Monaten, pünktlich zum nächsten Besuch, wieder gemeldet. Aber das ging nicht. 


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Ist das Verhältnis so herzlich wie ihr erwartet habt? Oder ist Pias Vater doch schon beinahe ein Sympathieträger?

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