Kapitel 19: Gegen die Wand (5)

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Pia


Meine Füße standen auf der obersten Sprosse der Leiter, die zu der Empore hinaufführte, auf der Lukas sonst wohl schlief. Hinter mir lagen Matratze, Decken, Wecker, Handyladekabel und Bücher unter einer Dachschräge mit Fenster- und ich hatte bei dem Anblick kurz darüber nachgedacht, wie ich wohl Lukas' Zimmer übernehmen könnte. Und wie viel ich wohl dafür zahlen musste. Der Raum war sowieso schon groß und diese gemütliche Höhle unter dem dunklen Nachthimmel war ein Traum. Das hellgraue Schlafsofa, der weiße Wandschrank und der Schreibtisch direkt gegenüber von der Leiter zur Empore passten perfekt zueinander. Als ich das angemerkt hatte, hatte Lukas gelächelt.

„Das meiste habe ich von meiner Vormieterin übernommen. Sie hat Geschmack, nicht ich."

Dann hatte er sich auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen und ich war, nachdem ich seinen Schlafplatz inspiziert hatte, einfach am Rand der Empore sitzen geblieben. Und dann hatte ich mir ein Herz gefasst und auf die Geschichte bestanden. Ich war davon ausgegangen, dass Lukas wieder versuchen würde, sich aus der Nummer herauszuwinden, aber er hatte von seinem Schreibtischstuhl zu mir hochgesehen, mit den Schultern gezuckt und mit einem „Wie du willst" eine Geschichte eingeleitet, die mich fast dankbar auf den Abstand zwischen uns gucken ließ. Er hatte bei der Trennung von seiner Freundin angefangen und ich hatte den Fehler gemacht, nachzuhaken. Er hatte mir an der Stelle einen prüfenden Blick zugeworfen, dann geantwortet und von da an hatte ich eigentlich nicht mehr wissen wollen, wie die Geschichte weiterging. Sie erzählte mir zu deutlich, wie sehr Lukas seine Freundin geliebt hatte und garantiert immer noch liebte- wenn auch auf eine verquere Art und Weise. Sie erzählte mir genauso deutlich, dass eine halbe Ewigkeit Beziehung Themen aufwarf, die mich noch nie berührt hatten und denen ich auch in den nächsten Jahren noch nicht nahe kommen wollte. Zu hören, dass Lukas und seine Freundin darüber nachgedacht hatten, zu heiraten, war eine absurde Vorstellung, die mich mit der Nase nicht nur darauf stieß, dass ich mit Viktor oder Niklas keine richtigen Beziehungen geführt hatte und allein deshalb keine Ahnung davon hatte, wie sich sowas anfühlte, sondern auch darauf, dass diese Themen für mich Lichtjahre weg waren. Das Hochzeitsthema war sicher weniger gruselig als das Familienthema, das Lukas als nächstes auf den Tisch packte- und zu hören, dass seine Beziehung letztlich quasi daran gescheitert war, machte mich sprachlos. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Mir war bewusst, während ich auf dieser Empore hockte und meine Knie umarmte, dass ich mit meinem Urteil über seine Freundin und die Art, wie sie die Beziehung der beiden beendet hatte, verdammt vorsichtig sein sollte. Nicht, weil ich den Eindruck gehabt hätte, das Lukas mich sonst rausgeworfen hätte, sondern vielmehr, weil ich einsah, dass ich keine Ahnung hatte, wie es war, über eine Familie nachzudenken- egal wie vage auch immer- und dann zu hören, dass diese ganzen Träume auf einmal unter einem ungünstigen Stern standen. Ich hatte einfach keine Ahnung und als ich versuchte, es mir vorzustellen, blieb mein Kopf seltsam unberührt. Also hielt ich hinter den Zähnen zurück, was mir durch den Kopf ging, als Lukas andeutungsweise erzählte, wie es zu Ende gegangen war: erst kühl, dann mit abbrennenden Brücken. Als er in wenigen Sätzen abhandelte, wie er sie in Berlin besucht hatte, wo sie ihm überhaupt erst erklärt hatte, woran er war und ihm zum Abschluss quasi seine Familie abgesprochen hatte, sah man ihm keine Gefühlsregung an. Er spielte mit seinen Fingerkuppen und ich spürte unterdessen, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Nicht wegen Inga und ihrem offensichtlichen Bedürfnis, Lukas für immer aus ihrem Leben zu schießen, sondern wegen des Themas, dass ich so viel besser nachvollziehen konnte als Zukunftspläne eines Lebens, das ich nicht kannte. Keine richtige Familie. Sicherheitsnetz. Ich musste mir nicht vorstellen, wie verletzend das für die Familie und für Lukas sein musste, ich wusste es einfach. Kim musste insgeheim außer sich sein vor Wut. Wobei, wenn ich ehrlich mit mir war, wusste ich eigentlich wenig darüber, wie Lukas und der Rest der Familie zueinander standen. Es wurde nie darüber geredet, zumindest redeten Kim und ich eigentlich nie darüber. Wieso sollten wir auch? Lukas war, wann immer ich mit Kim flüchtig über ihn gesprochen hatte, immer einfach ihr Bruder. Vielleicht sagt das auch alles aus, was es darüber zu sagen gibt., dachte ich stumm. So, wie sie Weihnachten an Lukas geklebt hatte, war er wohl kaum der Fremdkörper in der Familie, als den Inga ihn gezeichnet hatte. Es war wohl kaum zu vergleichen mit dem, was ich empfand, wenn ich meinen Vater und seine Familie besuchte. Seine Frau, seine Kinder, sein Haus, sein Geld- und ich, die ab und zu die Hand aufhielt. Das war nicht einmal ein Sicherheitsnetz und so oft die Frau meines Vaters auch betonte, dass ich Teil der Familie sei, so oft log sie dabei und so wenig Ahnung hatte sie, wovon sie eigentlich sprach. Meine Ma und ich waren Familie gewesen, meine Oma und ich waren es noch. Und das war mir heilig.

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