Kapitel 9

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„Na, wie ist es gelaufen?" Delphie hatte schon auf Rosa gewartet, als sie mit ihren Eltern zusammen ins Hotel eingecheckt hatte und zog sie jetzt mit sich auf die große befahrene Straße vor dem Hotel. „Da um die Ecke ist gleich der Kudamm. Opa Chris hat gesagt, dass wir da unbedingt flanieren müssen und dass wir uns den hohlen Zahn, das Europa Center und das KaDeWe anschauen müssen." „Hohler Zahn?" Was sollte das bitte sein? Es hörte sich jedenfalls nicht sehr ansprechend an. Egal, was es war. „Na, die Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche. Die nennen die Berliner so, hat Opa Chris gesagt." Rosa nickte nur. Okay, von der Gedächtniskirche hatte sie auch schon gehört. Das war eine im zweiten Weltkrieg zerbombte Kirche, die in Berlin noch als Mahnmal gegen den Krieg stand. Europa Center hörte sich entweder nach einem Zentrum mit einer Europa Ausstellung an oder aber nach einem Shopping Center.  Vielleicht sollte sie sich einfach überraschen lassen. Aber Überraschungen waren nicht so ihr Ding. „Was ist das Europa Center und KaDeWe?" Delphie schüttelte ihren Kopf. „Sag bloß keinem, dass deine Familie auch aus Berlin kommt. Das Europa Center ist ein Einkaufszentrum mit lauter kleinen Geschäften und Restaurants. Opa Chris hat gesagt, wir sollen da unbedingt in das Café mit dem Wasser drum gehen. Da war er früher mit Oma Dani auch ganz oft. Und das KaDeWe ist das Kaufhaus des Westens und ein total edles riesiges Nobelkaufhaus. Genaugenommen eines der größten Europas." Rosa zog ihre Stirn kraus. Nobelkaufhaus passte so irgendwie überhaupt nicht zu Delphies Opa Chris. Er war eher der bodenständige Typ. So ein Kaufhaus hätte eher zu ihrem Großvater Theodor gepasst, der immer auf Etikette wertgelegt hatte, genau wie ihre Oma Theresa, die erst seit seinem Tod nicht mehr nur in Designerklamotten herumlief und die man mittlerweile sogar Resi rufen durfte. Wenn aber alles stimmte, was Rosa mal in einer Unterhaltung von ihrer Mutter und ihrer Tante Vicky aufgeschnappt hatte, waren die beiden früher total verkniffene, elitäre Snobs gewesen. „Und das hat dir dein Opa empfohlen?" Sie schaute zweifelnd an ihnen beiden hinunter. Sie sahen auch nicht gerade nach Nobeldesigner, sondern normaler Streetware aus. „Ja, hat er." Delphine nickte überzeugt. „Will er, dass du wieder zu der Designer Tussi wirst?" „Quatsch", kicherte Delphie. „Im KaDeWe gibt es auch eine riesige Feinkostabteilung. Genaugenommen die zweitgrößte der Welt in einem Warenhaus." Man könnte meinen, ihre Freundin hätte einen Reiseführer verschluckt. Trotzdem stellte sich Rosa die Frage, was sie in einer Feinkostabteilung sollten? Sie waren beide eher der Typ Fertigpizza. Was sollten sie da also einkaufen? „Opa Chris hat gesagt, da gibt es voll die leckeren Fressstationen. Von Austern über Fleisch und Fisch bis zu Kuchen und Torten." Scheinbar hatte ihr Delphie wohl ihre Zweifel angesehen. Okay, das hörte sich lecker an, also bis auf die Austern. Und wenn Rosa ehrlich war, hatte sie ziemlichen Hunger. Zwar waren sie alle zusammen in dem Restaurant neben dem Reitstall essen gewesen, aber das war ja auch schon ein paar Stunden her. „Na, dann lass uns was futtern gehen", stimmte sie also schnell zu. „Perfekte Antwort. Die Kirche steht da auch nachher noch. Die hat ja keine Ladenschlusszeit", grinste Delphie und hakte sich bei ihr unter, während sie die Straße entlang schlenderten. Manno, hier war ordentlich etwas los. Alle paar Minuten hupte es irgendwo und die Leute liefen hektisch an ihnen vorbei. An diese Eile würde Rosa sich definitiv noch gewöhnen müssen. Genau wie an die Größe und Unübersichtlichkeit dieser Stadt. Das war schon alles eine Nummer größer als in Dortmund. Aber das würde sie schon hinbekommen. Sie musste ja nicht gleich die ganze Stadt erobern. Ihr reichte schon das kleine Teilstück um den Reitstall und die Uni herum. Mehr brauchte sie nicht. „Nun erzähl aber endlich, wie es gelaufen ist." Delphie stupste sie in die Seite. Stimmt, da war ja noch eine Frage offen, bevor ihre Freundin zum Reiseführer mutiert war. „Es ist super gelaufen. Ich habe die Box in dem Reitstall für Dalia bekommen", strahlte sie Delphie an, die sofort eine Grimasse zog. „Das ist schön, aber der Gaul interessiert mich nicht so wie die Frage, ob das mit dem Zimmer geklappt hat." Ja okay, ihre zukünftige Schwägerin hatte andere Prioritäten und Pferde standen da nicht sehr weit oben. „Ja, hat es. Ich habe das Zimmer in Phils alter Wohnung bekommen. Ich teile sie mit mit Nessa." Was Rosa von dieser Nessa halten sollte, wusste sie noch nicht so wirklich. Sie machte ja einen netten und herzlichen Eindruck, aber.... „Wo ist das Problem?" Delphie war abrupt stehen geblieben und musterte sie. „Welches Problem?" „Tu nicht so blöd. Du siehst nicht so happy aus, wie du es eigentlich solltest. Also, wo ist dein Problem?" „Na ja...." Sollte sie wirklich mit Delphie über ihre verkorksten Gedanken reden? „Raus jetzt damit! Vorher gehen wir keinen Schritt weiter. Und in der Feinkostabteilung  gibt es mit Sicherheit auch leckere Crêpes." Okay, das war ein zugkräftiges Argument. „Na ja, diese Nessa ist doch Stripperin. Ich habe einfach Schiss, dass da in der Bude die Kerle nur so ein und aus gehen. Außerdem muss ich mir erst einmal eine neue Matratze kaufen, weil Phil da in dem Gästezimmer eine nach der anderen abserviert hat und die alte von Tränen getränkt ist." Delphie brach in schallendes Gelächter aus. „Was?" Rosa schaute sie irritiert an. „Nessa als Stripperin! Wie kommst du denn auf den hohlen Ast?" Rosa zuckte mit den Schultern. „Phil hat gesagt, dass sie sich mit Junggesellenabschieden auskennt." „Ja, weil sie im Club ihres Vaters aushilft und in seiner Eventagentur arbeitet." Ups, da hatte Rosa in eine völlig falsche Richtung gedacht. „Und wenn schleppt sie höchstens Mädels mit nach Hause. Nessa ist nämlich lesbisch." Man, war das peinlich. Sonst war sie doch nicht so voreingenommen. „Und wenn du Phil für den absoluten Aufreißer und Weiberhelden hältst, dann überlege mal, wann du ihn schon einmal mit einem Mädel gesehen hast." Also wenn Rosa ehrlich war, noch nie. „Du meinst, er ist auch schwul?" Der Gedanke war ihr noch nie gekommen, schließlich strahlte er Männlichkeit pur aus. „Quatsch", kicherte Delphie. „Er steht schon auf Mädels. Aber ist mit Sicherheit nur ein Schaf im Wolfspelz." „Du meinst ein Wolf im Schafspelz", korrigierte Rosa sie. „Nee, ich meinte schon ein Schaf im Wolfspelz. Er tut nur wie der große Weiberheld und in Wirklichkeit ist er der kleine Romantiker der aus dem Dornröschenschloss abgeholt werden will." „Na, wenn du meinst." Da war Rosa eher skeptisch, dass Delphie damit richtig lag. Andererseits hatte sie vielleicht wirklich recht. Sagte man nicht immer Hunde, die bellten, bissen nicht oder große Klappe und nichts dahinter? Wenn das zutraf, dann.... Rosa spürte eine bekannte Wärme in ihren Wangen.....dann tat sie ihm ziemlich Unrecht. „Ja, das meine ich! Was nicht heißt, dass du beim Junggesellenabschied und der übrigen Planung für die Hochzeit nicht ein Auge auf ihn haben sollst. Er schießt nämlich manchmal etwas über das Ziel hinaus. So und jetzt lass uns die Fressabteilung stürmen." Delphie setzte sich wieder in Gang und zog Rosa energisch mit sich. Vielleicht sollte sie versuchen Phil doch noch einmal ganz unvoreingenommen zu beurteilen.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt