Ein Klopfen an der halboffenen Bürotür, ließ Phil aufschauen. Nado, der im Körbchen neben seinem Schreibtisch gedöst hatte, war sofort schwanzwedelnd aufgesprungen. „Du wolltest mit mir sprechen?" Delphie kam ins Zimmer marschiert und ließ sich wie selbstverständlich in den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches gleiten. Die Eleganz mit der sie das tat, gab immer noch einen Hinweis auf ihre frühere Zeit als Ballerina, die durch einen Kreuzbandriss ein abruptes Ende fand und deshalb Platz gemacht hatte für eine neue Karriere als Graffiti-Künstlerin. „Ja, ich wollte mit dir darüber sprechen, ob du wohl wieder mein Wartezimmer verschönern kannst, Marshmallow." Phil musste schmunzeln, denn diesen Spitznamen, den er Delphie vor ewigen Zeiten verpasst hatte, weil sie als kleines Kind ständig Marshmallows gefuttert hatte, benutzte sie mittlerweile als Künstlernamen. Da sollte noch einmal jemand behaupten, dass er nicht auch kreativ war. Und ja, sie sollte sein Wartezimmer wieder verschönern, denn damals, als er die Praxis gerade übernommen hatte, hatte sie ihre illegale Sprayerkarriere begonnen und war prompt erwischt worden. Um sie aus dem illegalen Bereich in ein legaleres Terrain zu bekommen, war ihm der Einfall gekommen, dass sein Wartezimmer mit Tiergraffitis verschönert werden musste. Das hatte auch sehr viel Anklang bei den Herrchen und Frauchen seiner Patienten gefunden. Blöderweise, war aber durch die Umbauarbeiten dass Kunstwerk verschwunden. Scheinbar fehlte es nicht nur Phil, sondern auch einigen seiner alteingesessenen Praxisbesucher. Frau Müller hatte ihm gestern mit enttäuschtem Blick ins Wartezimmer erklärt, dass seine Praxis zwar wirklich schön geworden war, aber dort einfach etwas fehlte. Deshalb hatte er Marshmallow auch gleich gestern noch angerufen und gebeten heute in der Mittagspause zu ihm zu kommen. „Du kannst dir ja sicher denken, worum es geht." Delphine nickte. „Klar, um dich Starrkopf und den Starrkopf, dessen Namen ich jetzt in meinem Nachnamen trage. Ich frage mich, wann ihr beide mal endlich zur Vernunft kommt und miteinander redet. Ihr seid doch beste Buddys." Phil schnaubte. „Ich bin kein Starrkopf. An mir liegt das alles nicht. Und, dass wir beste Freunde sind, dachte ich auch einmal. Das sieht dein Mann aber scheinbar anders. Diesen ganzen dämlichen Pferdeverkauf haben wir über Mails abgewickelt, weil er meine Gespräche nicht einmal angenommen hat." „Und hast du es jetzt noch einmal versucht?" Phil schüttelte seinen Kopf. „Wozu? Ich kann besseres mit meiner Zeit anfangen als diesem Tuten im Telefon zu lauschen." „Ja, du bist definitiv kein Starrkopf", brummte Marshmallow kopfschüttelnd. „Das merkt man sofort. Also, wenn es das nicht ist, worüber du mit mir reden wolltest, dann musst du mir schon auf die Sprünge helfen." „Ich wollte dich fragen, ob du mein Wartezimmer wieder mit deinen Künsten verschönern kannst. Die Besitzer von meinen Patienten laufen schon Amok wegen der weißen Wände." Marshmallows Augen begannen sofort zu leuchten. „Du hast schlaue Patienten. Dein Wartezimmer sieht echt zum Totumkippen langweilig aus. Ich hätte da schon ein paar echt coole Ideen." Marshmallow griff nach dem Blatt, das vor Phil lag und zog den Stift aus seiner Hand. „Halt, Stop! Das ist das Blutergebnis von einem Patienten." Phil schaffte es gerade noch sie davon abzuhalten, los zu kritzeln. „Etwa von dem kleinen Scheißer?" Marshmallow rümpfte ihre Nase, ehe sie sich zu Nado hinunterbeugte, der sie mit seiner Schnauze angestupst hatte. „Was ist das überhaupt für ein Flohteppich?" Auch wenn sie es sich versuchte nicht anmerken zu lassen, war sie total tierlieb. „Das ist Rosas Hund, den sie auf Mallorca gerettet hat." Marshmallow nickte. „Und du kümmerst dich um ihn, bis sie es wieder selbst kann." „Sie will ihn nicht mehr", stöhnte Phil auf. „Ich war letzte Woche mit ihm bei ihr. „Sie hat mir mit Tränen in den Augen gesagt, dass ich ein neues Frauchen für ihn finden soll, weil sie dafür nicht mehr geeignet ist." Er hatte extra nicht das Wort Krüppel benutzt, das Rosa ihm an den Kopf geknallt hatte. Es war für ihn ein Schock gewesen, als sie sich selbst so bezeichnet hatte. Es gab ihm einen gewissen Einblick in ihr Innenleben. Und dieser Einblick gefiel ihm überhaupt nicht. Er wusste, dass die beste Medizin zur Genesung immer eine gesunde Portion Optimismus war, die einen über so manches Tal trug. Dieser Optimismus schien ihr aber total abzugehen. „Wieso? Hat sie endlich begriffen, dass nur Katzen die wahren Haustiere sind?", kicherte Marshmallow. Ja, sie war Katzenmutter und ihre Duchesse war ihr absolutes Heiligtum. Nur Sascha schaffte es in der Rangliste der liebsten Lebewesen auf eine Stufe mit ihr. Phil schüttelte seinen Kopf. „Nein, sie ist in einem totalen Tief und traut sich das nicht mehr zu. Wann warst du das letzte Mal bei ihr in der Reha?" Marshmallow schaute ihn schuldbewusst an. „Gleich nachdem wir aus dem Urlaub zurück waren und von dem Unfall gehört haben. Verflucht, ich bin so eine schlechte Freundin und Schwägerin. Ich habe sie da einfach schimmeln lassen, ohne sie mal zu besuchen. Okay, Sascha und seine Eltern sind jeden Tag hin und ich hatte mit dem Einräumen des Haus zu tun." Ihre Hand knallte auf den Schreibtisch. „Trotzdem ist das kein Grund, sie so im Stich zu lassen. Ich bin echt furchtbar. Die drei sehen doch selbst immer wie die begossenen Pudel aus. Sascha läuft nur noch mit Trauermiene rum. Ich hätte mit müssen, um sie etwas aufzuheitern. Eh du! Was machst du denn da. Das sind meine Flipflops." Nado hatte ihr den Schuh von den Füßen gezogen. „Du bist entweder ein kleiner Strauchdieb oder ein total begabter Flohbeutel." „Begabt?" Phil schaute sie erstaunt an. „Ja, begabt. Wenn er mir den Schuh ausziehen kann, könnte er bestimmt auch Socken ausziehen und andere Hilfestellungen geben." Phil tippte sich ans Kinn. „Du meinst er könnte als Assistenzhund hilfreich sein?" Wieso war ihm das selbst noch nicht aufgefallen? Klar, das war doch überhaupt die Idee. Er würde sich dazu gleich mal schlau machen. „Also was ist jetzt mit dem Graffiti für das Wartezimmer?", wandte er sich aber trotzdem an Marshmallow. „Ich mache dir eine Skizze und du kommst heute Abend rüber." „Und Sascha?" Phil bezweifelte, dass ihn sein früher bester Freund begeistert empfangen würde. „Der ist zu irgendeinem Mannschaftsabend. Also kommst du? Dann kann ich dir auch die entsprechenden Farben zeigen." Phil nickte. Ja klar, warum nicht. Er hatte ja nichts vor. Und einen Abend, ohne seinen spanischen Besuch, wäre vielleicht auch mal ganz entspannend. Also nicht, dass er die beiden nicht mochte, aber sie waren schon ziemlich besitzergreifend und ließen ihm kaum eine freie Minute, in der sie ihn nicht in eine Unterhaltung verwickelten.
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Schuss und Treffer - Eigentor Teil 16 ✔️
Teen FictionRosas Leben läuft in perfekten Bahnen. Sie hat gerade ihr Abitur als Schulbeste bestanden. Da bremst sie auch kein Numerus Clausus aus. Ihr Traum vom Veterinärstudium in Berlin ist zum Greifen nahe. Und dann ist da dieser eine Tag, der alles, aber...