Kapitel 66

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„Princesa, da draußen ist so schönes Wetter. Möchtest du Rosa-Maria und mich nicht in die Stadt begleiten?" Alfonso schaute sie bittend an. „Du kannst mich doch nicht mit ihr alleine einkaufen schicken. Du weißt wie anstrengend es ist. Wir beide könnten uns in ein schönes Eiscafé setzen, während sie die Verkäufer im Supermarkt in die Verzweiflung treibt." Rosa schüttelte den Kopf. „Keine Lust", brummte sie. Sie sah die Enttäuschung in Alfonsos Gesicht. „Princesa, du musst wieder anfangen zu leben und dich nicht nur hier verstecken. Wer sich versteckt, der findet sich manchmal selbst nicht mehr wieder. Sollen wir dir etwas mitbringen?" Wieder schüttelte Rosa nur den Kopf und Alfonso verließ ihr Zimmer. Rosa war klar, dass sie ihn mit ihrem Verhalten ziemlich enttäuschte. Das tat ihr auch im Herzen weh, aber es war einfach nötig, damit er zusammen mit Rosa-Maria wieder nach Mallorca zurückkehrte und dort sein Leben wieder aufnahm. Ja, die beiden hatten ja noch ein Leben. Das sah bei ihr schon ganz anders aus. Was hatte er gesagt? Wer sich versteckte, fand sich manchmal selbst nicht wieder. Das war ja in ihrem Fall kompletter Blödsinn. Was gab es da schon wieder zu finden? Die Rosa, die es mal gab, war mit dem Unfall verschwunden. Und die neue Rosa? Wollte sie die überhaupt finden? Und wenn sie sie fand, was hatte sie schon zu bieten? Rosa verzog ihr Gesicht und schnaubte. Nichts hatte sie zu bieten. Überhaupt nichts. Nein, sie war nur eine Last für alle anderen. Sie schaffte es ja nicht einmal, sich alleine ohne Hilfe anzuziehen. Der Unfall hatte sie in das Babystadium zurückgeworfen. Wenigstens musste sie nicht gewickelt werden. Das wäre wirklich demütigend. Rosa schaute aus dem Fenster. Alfonso hatte recht, heute wäre ein perfekter Tag für ein Eiscafé gewesen. Ja, in ihrem alten Leben hatte sie solche Ausflüge geliebt. Aber jetzt war das alles mit einem unglaublichen Aufwand verbunden. Schon alleine dieser blöde Rollstuhl blockierte den kompletten Kofferraum. Nein, es war schon besser, wenn sie hier einfach auf dem Zimmer blieb. Ja, sie ging einfach ihrer neuen Lieblingsbeschäftigung nach und starrte weiter aus dem Fenster. Keine Gedanken, keine Erwartungen. Das war perfekt. Ja, in die Luft starren konnte sie noch. Dann hatte sie ja wohl ihre neue Lebensaufgabe gefunden. Wow, wie anspruchsvoll. Ein zynisches Kichern entkam ihr. Ja, Zynik war ihr neuer Humor. An Rosas Bein stupste es. „Nado, was willst du denn schon wieder hier?" Dieser kleine Kerl war unermüdlich. Er war ständig um sie herum, egal wie oft sie ihn verscheuchte. Nachts hüpfte er sogar in ihr Bett, wenn er glaubte, dass sie schlief und es nicht merkte. Okay, mittlerweile fand sie es ziemlich tröstlich, wenn sich sein kleiner warmer Körper an sie kuschelte. Auch wenn das etwas war, was sie nur sehr ungern zugab. Sie durfte einfach nicht so egoistisch sein. Der Kleine hatte etwas besseres als Frauchen verdient als einen bewegungsunfähigen Krüppel wie sie, der nicht einmal mit ihm Gassi gehen oder spielen konnte. Der junge Hund legte ihr das Plüschpferd auf den Schoß, dass sie vor ein paar Tagen durch die Gegend geworfen hatte. Es sah schon ziemlich mitgenommen aus. „Uih, da ist ja eine Naht aufgegangen. Das muss aber genäht werden." Rosa schaute auf das Loch, aus dem schon die Füllung quoll. Nado stupste mit seiner Schnauze ihren Oberschenkel an. Das war wohl die Aufforderung das Plüschpferd zu werfen. „Du kleine Nervensäge, damit kannst du nicht mehr spielen. Das ist zu gefährlich. Das müssen wir nachher Rosa-Maria zum Nähen geben." Rosa nahm das Stofftier und legte es auf den Tisch vor ihr. Ein leises Fiepen setzte ein und der Hund machte einen langen Hals. Dann hieß es wohl ihn einfach ignorieren. Darin war sie ja mittlerweile ziemlich trainiert. Ja, man könnte sagen, dass das seit ihrem Unfall zu ihrem Spezialgebiet gehörte. Es war sozusagen ihre Spezialkraft. Ob Mensch oder Hund, das machte ja keinen Unterschied. Ignorieren war Ignorieren. Sie widmete sich wieder ihrer neuen Lebensaufgabe und starrte aus dem Fenster. Der Schwanz des Hundes klopfte in froher Erwartung laut auf den Boden und seine Schnauze stupste an ihre Hand. „Du gibst nicht auf, oder?" Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie gesagt, dass der Hund sie gerade anlächelte und ihr zuzwinkerte, als würde er sagen wollen, darauf kannst du wetten. „Okay, dann suchen wir jetzt Nähzeug." Vielleicht ließ er sie dann ja wieder in Ruhe und beschäftige sich alleine mit seinem Spielzeug. Rosa setzte ihren Rollstuhl in Bewegung. Der Hund folgte ihr. Wo mochte Phil hier wohl Nähzeug versteckt haben? Bei Sascha in seinem Junggesellenhaushalt hatte seine Mutter einen kleinen Nähkorb in dem Haushaltsschrank deponiert gehabt. Hoffentlich war Phils Mutter Franzi ähnlich gestrickt. Rosa rollte den Flur entlang zu der kleinen Kammer, in der sie die Haushaltssachen vermutete. Sie zog an der Tür, die sich ein kleines Stück öffnete. Na super! Ihr blöder Rollstuhl stand so blöd vor der Tür, dass sie sie nicht weiter öffnen konnte. Rosa rollte mit dem Rollstuhl ein Stück zurück, um die Blockade aufzuheben. Okay, jetzt müsste es funktionieren. Sie griff wieder nach dem Griff, um die Tür zu öffnen. Verflucht, warum kam sie denn da nicht ran! Ihre Arme waren einfach zu kurz. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Sie schaffte es nicht einmal die Tür von dieser dämlichen Kammer zu öffnen. Wütend schlug sie mit ihrer Hand gegen ihren Rollstuhl. Ein Schmerz durchzuckte sie kurz. Dieser Schmerz war aber nichts gegen den Schmerz in ihrer Brust. Sie schaffte es nicht einmal einen Schrank zu öffnen, um ein dämliches Stofftier zu nähen. Wozu war sie überhaupt noch zu gebrauchen? Tränen strömten ihr über ihre Wangen und wilde Schluchzer stiegen aus ihrer Brust auf.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt