Kapitel 70

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„Heh, lass das!", versuchte sich Rosa wenigstens verbal gegen ihre Entführung zu wehren. Andere Möglichkeiten hatte sie ja körperlich nicht. Phil reagierte darauf überhaupt nicht. Er schob ihren Rollstuhl einfach weiter und öffnete den Durchgang zur Praxis. „Hier ist doch alles ruhig! Also warum machst du so ein Drama!" Abrupt blieb er stehen. „Die einzige Dramaqueen hier im Raum bist du. Als ich angeleiert habe, dass du nicht zurück in dieses blöde Rentner-Reha-Heim musst, habe ich echt erwartet, dass dir das Zusammensein mit deinen Freunden und deiner Familie hilft, schnell wieder fit zu werden. Deshalb war es auch überhaupt kein Problem, dass du hier bei mir einziehst, wo alles barrierefrei ist. Wozu sollte deine Familie ihre Häuser umbauen, wenn das bald sowieso nicht mehr nötig ist. Zu dem Zeitpunkt habe ich echt nicht damit gerechnet, dass du so eine undankbare Dramazicke bist, die lieber im Selbstmitleid versinkt. Wo ist die süße kleine Kornblume geblieben, die jedem gerne geholfen hat und Jedermanns Sonnenschein war? Ich sag dir, wo sie ist." Phil beugte sich zu ihr herunter und tippte auf ihr Brustbein. „Da ganz tief drin ist sie. Und du kneifst jetzt den Arsch zusammen und hilfst mir. Ist das klar?" Was sollte Rosa da anderes machen als nach dieser Ansprache leicht bedeppert zu nicken.
„Prima, dann sind wir uns ja einig. Und die Ruhe wird nicht lange anhalten. In einer halben Stunde ist die Mittagspause um, dann kesselt es hier wieder. Ich habe die Leute nur gebeten einen kurzen Spaziergang zu machen. Wir haben also nicht lange Zeit, dass ich dir das Patienten- und Rechnungsprogramm erkläre. Da du aber den Umgang mit PC gewohnt bist, sollte die Zeit reichen. Also....." Phil schob sie unbeirrt weiter in den Raum mit der Anmeldung und parkte sie hinter dem Schreibtisch ein. „Also, wenn du hier öffnest......" Rosa versuchte sich zu konzentrieren. Das war gar nicht so einfach bei den ganzen Sachen, die Phil ihr an den Kopf geworfen hatte.
Was hatte er gesagt, sie suhlte sich im Selbstmitleid und wäre undankbar? Das stimmte doch überhaupt nicht! Na ja, vielleicht stimmte das mit dem Selbstmitleid schon irgendwie. Vielleicht hatte er da schon recht. Sie hatte sich schon die ganze Zeit zurückgezogen und sich vorgebetet, was sie alles nicht mehr konnte, anstatt das zu genießen, was sie konnte. Das musste sich wirklich ändern. Es wurde Zeit, dass sie das Leben so akzeptierte, wie es war. Und wenn es für sie bedeutete mit Rollstuhl, dann war das halt so. Aber vielleicht ließ sich da ja wirklich noch etwas dran ändern. Hatte Phil nicht gesagt, aus medizinischer Sicht könnte sie wieder laufen? Das hatten Max und Vicky ihr auch schon ein paar Mal gesagt. Vielleicht stimmte es ja wirklich? Hatte sie sich bis jetzt vielleicht einfach wirklich nicht genug in die Reha gehängt? „Und alles verstanden?" Phil schaute sie prüfend an. Rosa nickte. Okay, auch wenn ihre Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen waren, schien es nicht so schwer, die einzelnen Patienten aufzurufen. Auch das Anlegen einer neuen Patientenakte war nichts anderes als auf ihrem PC eine neue Datei zu erstellen. Na ja und eine fertige Rechnung ausdrucken, das würden wohl auch die meisten Patienten, also die zweibeinigen, selbst hinbekommen. Da gehörte ja nun wirklich nichts dazu. „Erklärst du mir noch das Kartenzahlgerät?" Damit kannte sich Rosa nun wirklich nicht aus. Normalerweise hielt sie ja einfach nur ihre Karte davor und die andere Seite tippte daran herum. Warum grinste Phil sie denn so an? So blöd war die Frage ja nun auch nicht. „Du musst hier den Button unter der Rechnung anklicken, dann wird das Gerät automatisch mit der entsprechenden Summe und den Zahlungsdaten angesteuert. Wenn du noch Fragen hast, kannst du sie hier in den Praxis-Chat schreiben, dann kann ich sie dir auf die Schnelle beantworten. Oder du musst warten, bis ich den nächsten Patienten abhole." Rosa nickte. Das beruhigte sie, dass sie ihn jederzeit erreichen konnte, ohne mit dem Rollstuhl durch die Praxis zu rollen. Ja, sie musste zugeben, dass sie sich mit dem Teil nicht wirklich geschickt fortbewegen konnte. Lag das vielleicht auch dran, dass sie immer nur in ihrem Zimmer gesessen hatte, anstatt den Umgang und das Manövrieren mit dem Teil zu üben? Sehr wahrscheinlich, denn es gab doch Millionen von Rollstuhlfahrer, die sich auf diese Weise durch ihren Alltag bewegten. Also musste es ja wohl mehr Möglichkeiten geben, als nur geradeaus zu rollen oder sich schieben zu lassen. „Na dann, los geht's. Ich schließe schon mal auf." Rosas Blick folgte Phil, der den Schlüssel ins Türschloss der Praxis steckte. Sie atmete tief durch. Hoffentlich packte sie das hier auch. Blödsinn, natürlich packte sie es! „Sollen wir uns gleich wieder in der alten Reihenfolge aufstellen? Oder sind unsere Daten noch im Computer?", ertönte eine weibliche Stimme, kaum dass die Tür offen war. Rosa schaute verzweifelt zu Phil. Das fing ja gut an. Woher sollte sie wissen, ob die Daten noch im Computer waren? „F5", raunte er ihr zu. Rosa drückte die Taste und eine Liste tauchte vor ihr auf. „Also, Benny, Emma, Peggy und Laika können sich schon setzen", kam es lautstark von Phil, der ihr über die Schulter geschaut hatte. „Frau Nawrath, Sie können mit Hops gleich mit mir mitkommen. Also dann." Phil klopfte Rosa leicht auf die Schulter, ehe er mit der Frau im Schlepptau aus der Anmeldung verschwand. Dann ging es jetzt wohl los. Rosa schaute auf in das lächelnde Gesicht einer älteren Dame. „Ich bin mit Trixie hier. Sie ist schon genauso alt wie ich. Also in Dackeljahren. Mein Name ist Keller." Sie begann auf der Tastatur zu tippen. Okay, da war Trixie Keller. Erleichtert atmete Rosa auf. „Dann setzen Sie sich doch bitte mit Trixie ins Wartezimmer, Frau Keller." Sie zauberte sich sogar ein Lächeln für die ältere Dame ins Gesicht. „Ach ja, hier sind noch ein paar selbstgebackene Kekse. Die mag Fräulein Verena immer so gerne, deshalb bringe ich sie ihr immer mit. Vielleicht mögen Sie die ja auch, Fräulein...." „Rosa", half sie ihr aus. „Ja, Fräulein Rosa." Die ältere Dame nickte. „Das ist ein sehr hübscher Name für ein sehr hübsches Mädchen. Kein Wunder, dass unser Doktor Sie so verliebt anschaut." Was meinte sie denn damit? Phil hatte sie heute ja wohl die meiste Zeit wütend angeschaut. Aber ältere Damen sahen ja immer irgendwelche Sachen, die so gar nicht waren. Das kannte sie von Oma Resi und ihrer Freundin Silvia. Das musste an dem vielen Kitsch liegen, den sie immer schauten oder in den Büchern lasen. „Danke, Frau Keller. Ich werde sie gleich probieren, wenn der erste Ansturm vorüber ist." Ihr Blick fiel zu dem kleinen Plastikbeutelchen, das sie gereicht bekommen hatte. Ja, die konnte sie dann bestimmt als Stärkung gebrauchen, um bis heute Abend durchzuhalten.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt