Das eintönige Piepsen der Geräte, an die Rosa zur Überwachung angeschlossen war, füllte den Raum. Phil saß auf einem Stuhl neben Rosas Bett und hielt immer noch ihre Hand. Mit seinem Daumen strich er sanft über ihren Handrücken. Er traute sich nicht aufzuhören, weil er Angst hatte, dass sie wieder aufwachte und ihn mit Fragen bombardierte, die er ihr nicht beantworten konnte. Allen voran war da die Frage, wann sie endlich zu Dalia konnte. Er hatte gestern noch Sebastian erwischt, der für ihn in den Stall gefahren war und nach der Stute geschaut hatte. Sie hatte nur eine kleine Bisswunde, die sein Praxishelfer hatte versorgen können. Glücklicherweise hatte er auch mitgedacht und ihm ein paar Fotos von dem Pferd geschickt. Rosa wäre sonst wahrscheinlich total durchgedreht. Das Mädel machte sich mehr Sorgen um ihr Pferd als um sich selbst. Ja, das waren die perfekten Anlagen für eine gute Tierärztin, die das Wohl der Tiere über ihr eigenes stellte. Die Frage war nur, ob dieser Traum so noch in Erfüllung gehen würde. Auch wenn sich die Ärzte mit ihrer Diagnose noch bedeckt hielten, war Phil klar, dass es auf keinen Fall gut aussah. Er befürchtete eine Querschnittslähmung. Zum Glück schien das Rosa noch nicht so klar zu sein. Sie sprach immer nur davon, wann endlich ihre blöden Beine eingegipst wurden, damit sie zu Dalia konnte. Wenn es wirklich so kam, wie er vermutete, würde das ein ziemlicher Schock für sie werden. Phil hoffte nur, dass bis dahin schon Erik und Kathie hier waren, um sie aufzufangen. Ihm grauste der Gedanke, dass er derjenige sein könnte, der als einziger da war, wenn sie diese schlimme Nachricht erfuhr. Er fühlte sich dem nicht wirklich gewachsen. Wie reagierte man auf die Verzweiflung eines jungen Mädchens, das eigentlich noch alles vor sich hatte und dann plötzlich mit solch einer Einschränkung leben musste, weil es an den Rollstuhl gefesselt war? Er richtete sich auf und schaute auf den Überwachungsmonitor. Die Werte sahen alle gut aus. Wenigstens schlief Rosa jetzt. Die Ärzte hatte ihr ein paar Schmerz- und Beruhigungsmittel verabreicht. Und sollte er derjenige sein, der bei ihr war, wenn sie die Diagnose erfuhr, würde er das auch irgendwie hinbekommen. Er kam ja auch mit Tierbesitzern klar, die gerade das wichtigste in ihrem Leben verloren hatten, wenn er ihren Liebling von seinen Qualen erlösen musste. Vielleicht sollte er einfach auf sein psychologisches Fingerspitzengefühl vertrauen. Ja, er würde das schaffen. Er musste Rosa ja nur auffangen und ihr nicht die schlechte Nachricht überbringen. Er schaute auf seine Uhr. Es war schon weit nach Mitternacht. Vielleicht sollte er auch die Augen etwas zumachen, damit er morgens wieder halbwegs fit und für Rosa da war. Er schloss die Augen und rutschte etwas tiefer auf dem unbequemen Stuhl. Ein bisschen Erholung und ein paar schmerzende Glieder würden dabei schon herumkommen. Aber wenn er an Rosa dachte, wollte er sich darüber nicht beschweren. Er konzentrierte sich auf die Piepstöne und dämmerte dahin.
Was war das? Hatte ihn da jemand an die Schulter getippt? Bestimmt eine Schwester oder ein Arzt. Scheiße! Das bedeutete bestimmt nichts Gutes. Phil riss erschrocken seine Augen auf und starrte auf Rosas Bett. Die Kleine schlief dort noch seelenruhig. Das war gut. Warum war er also geweckt worden? Er schaute zu dem Störenfried neben ihm. „Max!" Wann hatte er sich das letzte Mal so gefreut seinen Bruder zu sehen? Das könnte Phil nicht beantworten. Jetzt fiel ihm jedenfalls ein ganzes Gebirge vom Herzen, ihn hier zu sehen. „Ich hatte Glück, gleich einen Flieger zu bekommen", zwinkerte ihm sein Bruder zu, der noch in Räuberzivil neben ihm stand. Das hieß, er musste auf direktem Weg hierher gekommen sein. „Wieso wusste ich eigentlich nicht, dass ihr verlobt seid?" Max grinste ihn an. „Sonst hätten mich diese als Krankenpfleger verkleideten Wachhunde doch nicht zu ihr gelassen. Und ich wollte nicht, dass die Kleine alleine ist", brummte Phil. Ja, okay vielleicht hatte er da ein wenig geschwindelt, aber er kannte doch das Theater, was die da im Krankenhaus immer veranstalteten. Auf die Idee würde ein Tierarzt nie kommen. Bei ihm durften alle Personen, die zu dem Tier in welcher Beziehung auch immer standen mit in den Behandlungsraum. Die Hauptsache war, dass sein Patient sich wohl fühlte. Vielleicht sollten die Humanmediziner sich daran mal ein Beispiel nehmen und nicht auf irgendwelche Verwandschaftsverhältnisse pochen, sondern lieber an das Wohlbefinden ihrer Patienten denken, die sich dann nicht alleine grämen mussten. „Wie geht es ihr?" „Solltest das nicht du mir sagen?" Phil zog seine Augenbrauen hoch. „Mensch, ich meine psychisch. So etwas ist ja durchaus ein Schock." Phil kratzte sich am Hinterkopf. „Ich glaube sie hat das alles noch gar nicht richtig realisiert. Sie sorgt sich nur um Dalia." Max nickte. Er war ja selbst Reiter und hatte sein Pferd im gleichen Stall wie Rosa stehen.„Das ist manchmal nicht das Schlechteste. Besser als in Panik zu verfallen." „Ist die genaue Diagnose schon bekannt?" Max nickte und deutete mit seinem Kopf zur Tür. Phil löste seine Hand von Rosas und erhob sich. Er streckte sich kurz. Manno, diese Stühle waren echt ein Folterinstrument und sorgten für neue Patienten. Wer da nicht Rücken bekam, war wohl eine Ausnahme. Phil folgte seinem Bruder vor die Zimmertür. „Wie lautet die Diagnose?" „Paraparese durch Contusio Spinalis und instabile Fraktur des L2." Lähmung durch Quetschung oder Prellung mit einem Bruch des 2.Lendenwirbels. Scheiße! Auch wenn er etwas Ähnliches schon vermutet hatte, traf ihn die Diagnose doch. „Wann operiert ihr?" Ja, eine instabile Fraktur musste garantiert stabilisiert werden, damit der Druck vom Rückenmark genommen wurde. „In zwei bis drei Stunden, wenn alles gut geht. Wir warten nur noch auf einen Wirbelsäulenspezialisten aus Hamburg, den ich angerufen habe." „Bist du mit im OP?" Max nickte. Das beruhigte Phil ungemein. Wenn sein Bruder dabei war, würde er auf Rosa aufpassen und dafür sorgen, dass alles gut verlief. „Ist es irreversibel?" Phil musste wissen, ob es noch Hoffnung auf Besserung gab. Max zuckte mit den Schultern „Das kann ich dir nach der OP sagen." Phil schloss kurz seine Augen. Verflucht, es musste reversibel sein. Die Kleine hatte doch noch ihre ganze Zukunft vor sich.
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Schuss und Treffer - Eigentor Teil 16 ✔️
Teen FictionRosas Leben läuft in perfekten Bahnen. Sie hat gerade ihr Abitur als Schulbeste bestanden. Da bremst sie auch kein Numerus Clausus aus. Ihr Traum vom Veterinärstudium in Berlin ist zum Greifen nahe. Und dann ist da dieser eine Tag, der alles, aber...