Kapitel 63

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Rosa schaute zu der offen stehenden Tür, aus der ihre Tante Vicky vor kurzem verschwunden war. Ja, sie kam immer noch jeden Tag und versuchte mit ihr irgendwelche Reha-Übungen zu machen, die aber nicht im geringsten funktionierten. Rosa spürte, dass Vicky langsam ungeduldig und genervt war.  Aber es war doch nicht ihre Schuld, wenn diese dämlichen Rückenwirbel quer schossen und beschlossen hatten aus ihr einen bewegungsunfähigen Krüppel zu machen. Es war ja nicht so, dass es ihr geheimer Wunsch wäre, für immer in diesem blöden Rollstuhl zu sitzen. Nein, das hatte sie sich nicht ausgesucht, sondern das Schicksal hatte so entschieden. Sie war nur nicht so naiv und dumm wie die anderen, zu glauben, dass man daran noch etwas ändern konnte. Rosa legte ihre Hände an den Handlauf des Rollstuhls und setzte sich in Bewegung. Diese ständig offenstehende Tür ging ihr so langsam echt auf die Nerven. Ja, sie lud die anderen irgendwie dazu ein, zu glauben, dass in ihrem Zimmer Tag der offenen Tür wäre und man einfach hineinspazieren konnte. Wenigsten war der tägliche Besucherstrom etwas abgerissen, seit sie nur noch mit einem grummeligen maximalen Dreiwortsatz den Leuten antwortete. Ihre Familie und Freunde waren echt härter im Nehmen als sie erwartet hatte und ließen sich nicht ganz so schnell abschrecken. Trotzdem gab es schon einige Erfolge, seit sie beschlossen hatte, sich zurückzuziehen. Phils Geschwister war sie schon einmal los geworden. Nur ihre Familie ließ sich absolut nicht abschütteln. Ihre Eltern, Sascha, Del und Vicky schienen einen ausgeklügelten Plan erstellt zu haben, der es ihnen ermöglichte, sie maximal zu nerven, in dem sie sich nacheinander abwechselten. Wahrscheinlich würde hier gleich wieder einer von ihnen aufschlagen. Hatten die denn kein eigenes Leben mehr? Reichte es nicht, wenn Rosas Leben in Schutt und Asche lag. Warum lebten sie nicht einfach weiter. Sie konnten das ja. Es gab keinen Grund ihr Leben genauso den Bach runter gehen zu lassen. Vielleicht musste sie auch bei ihnen noch unnahbarer werden, damit sie endlich begriffen und aufgaben. Rosa brachte den Rollstuhl so in Stellung, dass sie der Tür einen Schubs geben konnte. Blöderweise war der nicht kräftig genug, damit sie laut scheppernd ins Schloss flog. Schade, denn das hätte ein wenig für Frustabbau gesorgt und vielleicht die im Haus Anwesenden davon abgehalten, ihr auf die Pelle zu rücken. Rosa legte ihre Hände wieder an die Handläufe und rollte zu dem Tisch am Fenster zurück, den Alfonso ihr dort aufgestellt hatte. Das erinnerte sie irgendwie an die Rehaklinik im Sauerland. Scheinbar hielten alle Leute es für eine gute Idee, wenn Krüppel wenigstens aus dem Fenster schauen konnten. Damit sahen sie dann wenigstens etwas von dem, an dem sie nicht mehr teilhaben konnten. Das war wie einen Sozialhilfeempfänger vor einem Luxuswarengeschäft abzustellen und ihm eine lange Nase zu drehen. Rosas Blick wanderte zum Himmel, der in einem kräftigen Blau erstrahlte. Nur vereinzelte kleine Federwolken waren unterwegs. Früher, also in ihrem alten Leben, hatte sie solche Tage geliebt, an denen die Sonne vom Himmel geschienen hatte. Sie hatte dann immer einen Ausritt mit Dalia an das normale Reittraining angehangen. Ob das ihre neuen Besitzer wohl auch mit ihr machten? Wie es Dalia bei ihnen wohl ging? Rosa kniff ihre Lippen fest zusammen und blinzelte gegen die Tränen an, die sich den Weg in ihre Augen bahnten. Verflucht! Dalia fehlte ihr so unglaublich. Ihr Blick fiel zu dem Plüschpferd, das auf dem Regal neben ihr saß. Wütend griff sie danach und schleuderte es durch das Zimmer. Wozu brauchte sie so ein dämliches Plüschpferd, wenn sie sowieso nie wieder auf irgendeinem Pferd sitzen würde. Das war für sie gestorben und das würde sich auch nie wieder ändern. Ihr Leben war einfach nur noch sinnlos. Ohne Pferde war alles sinnlos. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust und sie ließ ihren Kopf auf die Tischplatte vor ihr sinken. Die Tränen rannen ihr aus den Augen. Warum war ihr dieser blöde Sturz passiert? Was hatte sie verbrochen, dass das Schicksal sie so bestrafte....und dass es Dalia so bestrafte? Ihre kleine liebevolle Stute fehlte ihr gerade so unglaublich. Was würde sie dafür geben, noch ein einziges Mal ihr samtiges Maul zu spüren. Etwas Kaltes drückte sich in ihr Gesicht und etwas Feuchtes folgte. Rosa riss ihren Kopf hoch und schaute direkt in zwei dunkle Hundeaugen. „Äh, Nado! Was soll das?" Rosa wischte sich mit ihrer Hand über ihr vollgeschlapptes Gesicht. Das schien dem jungen Hund nicht zu gefallen, denn er legte sofort mit seiner Zunge nach. „Nado, hau ab!" Rosa schob den Hund beiseite. Scheinbar schien er sie endlich verstanden zu haben, denn er schlich davon. Rosa ließ ihren Kopf wieder auf die Tischplatte sinken und gab sich ihren finsteren Gedanken hin, die ihren Kopf fast zum Platzen brachten. Alle endeten mit den Worten unnützer Krüppel. Sie versuchte das Stupsen an ihrer Hand zu ignorieren. Scheinbar war dieser Hund doch nicht so intelligent wie sie geglaubt hatte. „Was willst du schon wieder?", fauchte sie ihn an. Der Hund hatte dieses blöde Plüschpferd in seinem Maul und legte es auf ihren Schoß ab.  „Willst du mich jetzt auch damit ärgern, dass ich nicht mehr reiten kann?Hast du noch nicht begriffen, dass ich ein nutzloser Krüppel bin?" Sauer griff Rosa nach dem Tier und warf es quer durch das Zimmer. Der Hund rannte hinterher und tauchte sofort damit im Maul wieder bei ihr auf. Wieder legte er es auf ihrem Schoß ab. „Manno, wie dumm bist du denn, dass du nicht verstehst, dass ich dieses blöde Teil nicht mehr haben will!" Rosa holte mit aller Kraft aus und pfefferte das Plüschpferd durch den Raum. An der gegenüber liegenden Wand prallte es ab und landete direkt im Maul dieses nervigen Hundes. „So jetzt hast du das Ding gefangen. Jetzt hau damit ab und nerve andere Menschen hier im Haus damit. Der Krüppel will endlich wieder seine Ruhe haben." Begriff das denn niemand hier im Haus, dass sie einfach nur für sich sein wollte? Nein, scheinbar nicht einmal dieser blöde Hund, der schon wieder mit dem Plüschding im Maul vor ihr stand. Der war ja noch hartnäckiger als ihre Familie.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt