„Papa, der Weihnachtsmann hat bestimmt Verspätung, weil er erst noch Rosa und Nado abholen muss." Pippa schien das einzige Kind in diesem Raum zu sein, das kein Problem damit hatte, auf den Weihnachtsmann zu warten. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie es sonst gewohnt war, auf die heiligen drei Könige zu warten, die in Spanien die Geschenke ja erst im Januar brachten. Okay, dann war sie ja wirklich früher als normal dran. Oder aber es lag daran, dass sie überzeugt davon war, dass sich ihr Wunsch erfüllte und sie deshalb die Verspätung in Kauf nahm. Phil schaute auf seine Uhr. Es war schon eine Viertelstunde nach Achtzehn Uhr, dem üblichen Zeitpunkt für die Bescherung bei der Familie Reus. Wen hatte sein Vater heute überhaupt dazu vergattert, den Weihnachtsmann zu geben? Phil schaute sich im Raum um, wer fehlte. Normalerweise war das ja immer sein Job gewesen, den er sehr gerne ausgeführt hatte. Es hatte ihm immer Spaß gemacht, für seine Nichten und Neffen ein ganz besonderes Erlebnis aus dem Weihnachtsfest zu machen. Hoffentlich gab sich sein Nachfolger genauso viel Mühe. Ja, das wünschte er sich für seine Tochter. „Na, bist du schon aufgeregt?" Luna gesellte sich zu ihm und Pippa und strich seiner Tochter sanft über die Haare. „Nö, ich war ja ganz artig. Stimmt's Papa?" Phil nickte schmunzelnd. In seinem Maßstab war das seine Tochter auf alle Fälle. Ob alle das so sahen, wusste er nicht, denn sie war schon eine kleine Herausforderung. „Und artige Kinder mag der Weihnachtsmann." Er korrigierte sich. Seine Tochter war eine selbstsichere Herausforderung. Dafür war er dankbar, denn bei allem, was sie in ihrem kurzen Leben schon erfahren musste, hätte das auch ganz anders sein können. Alleine schon der Ortswechsel und die Umstellung hätten manches andere Kind wahrscheinlich an seine Grenzen gebracht. Seine Gedanken wanderten zu Rosa. Sie hatte ihm da wirklich mächtig zur Seite gestanden und der Kleinen die Sicherheit vermittelt, die sie brauchte. Ob er das alleine auch so geschafft hätte? Ehrlich gesagt war er sich da nicht sicher, denn er hatte sich ziemlich überfordert mit der Situation gefühlt. Aber Rosas ruhige und besonnene Art hatte Vater und Tochter gleichermaßen geholfen. Im Flur war ein lautes Rumpeln zu hören, gefolgt von einem leisen Fluchen. „Hoffentlich ist nicht schon wieder was kaputt gegangen", stöhnte Luna leise vor sich hin. Phil schaute sie fragend an. Sie verzog ihr Gesicht. Die Zimmertür flog schwungvoll auf und knallte lautstark gegen die Zimmerwand. Es würde Phil nicht wundern, wenn die Klinke dort ein Loch hinterlassen hatte. „Ben....Benedeit sei der Weihnachtsmann!", rief seine Mutter aus. Benedeit? Der Typ war eine wandelnde Katastrophe! Was dachte er denn, wofür das Glöckchen war, das in der Tasche seines Kostüms steckte? Welcher Weihnachtsmann feuerte bitte so die Tür auf, dass sie fast aus den Angeln fiel. So etwas machte normalerweise nur einer in der Familie. Nein! Das hatte sein Vater nicht wirklich gemacht. Phil schaute zu Luna und formte lautlos Benny mit seinem Mund. Seine Schwester nickte und zuckte mit ihren Schultern. Ach du lieber Himmel! Das bedeutete, das an diesem Fest alles von kaputten Geschenken bis zum Notarzteinsatz am Weihnachtsmann drin war. Phil kannte keinen tollpatschigeren Menschen als seinen Bruder. „Ich habe heute schon zweimal den Mantel genäht", zischte Luna ihm zu. Okay, dann konnte man nur hoffen, dass damit und mit der beschädigten Zimmerwand das heutige Katastrophenpotenzial ausgeschöpft war. „HoHoHo", brummte sein Bruder und setzte schwungvoll den Jutesack auf der Erde ab. Hoffentlich war da nichts Zerbrechliches drin. Pippa hatte nach Phils Hand gegriffen und umkrallte sie mit ihrer kleinen. Scheinbar war der rote Mann doch etwas angsteinflössend für sie. Phil drückte ihre Hand und ging zu ihr in die Hocke. Sofort lehnte sie sich an ihn. Das war ein gutes Gefühl. Gemeinsam verfolgten sie den Weihnachtsmann, der begann die ersten Geschenke zu verteilen. Dieses Jahr war wohl nicht einmal das Aufsagen eines kleinen Gedichts gefragt. Scheinbar störte das die Kinder aber auch nicht, wie Phil feststellte. Bei ihm hatten sie immer etwas aufsagen oder wenigstens ein Lied singen müssen. Außerdem war er auch immer auf etwas Persönliches eingegangen. Na ja, das war wohl nicht so die Sache seines Bruders. Der verteilte nur so die Geschenke wie am Fließband. „Für Pippa!" Der Weihnachtsmann kam auf sie zu und streckte seiner Tochter den Karton entgegen, den Phil gestern Abend noch eingepackt hatte als die Kleine im Bett war. Hoffentlich war sie nicht zu enttäuscht, denn darin war nur ein Buch mit Tiergeschichten. Allerdings waren es nicht nur einfache Tiergeschichten, sondern welche, die gleichzeitig auch Wissen über die Tiere in kindgerechter Art vermittelten. Seine Tochter griff nach dem Geschenk und stellte es neben sich. „Willst du es nicht aufmachen?" Pippa schüttelte den Kopf. „Erst will ich Rosa und Nado auspacken." Sie schaute zu dem immer kleiner werdenden Sack. „Meinst du, er hat sie noch draußen irgendwo versteckt?" Also ganz sicher war draußen noch etwas versteckt, aber nicht das, was Pippa hoffte. „Hihi!" Pippa kicherte neben ihm. „Papa, der Weihnachtsmann stolpert genauso oft wie Onkel Benny!" Tatsache war der Rotbemäntelte über seine eigenen Füße gestolpert. Manno, konnte sich sein Bruder nicht einmal heute etwas mehr bemühen? „Sorry Kids, ich muss mal kurz mit meinem Helfer schreiben, damit er die letzten Geschenke an den Start bringt." Benny zog sein Handy aus der Seitentasche und die kleine Glocke scherbelte auf den Boden. „Ups! Die habe ich ja ganz vergessen." Sein Bruder kickte sie mit dem Fuß weg. Es folgte ein Klirren. Das nannte man dann wohl einen Volltreffer. „Wow, das war ein geiler Schuss, Weihnachtsmann!" Phils Nichte Allie hielt dem Weihnachtsmann ihre Hand zum Einschlagen hin, während ihre Zwillingsschwester Chrissie begeistert in die Hände klatschte. „Mama, der Weihnachtsmann ist auch Fußballer!" „Joa, wat meint ihr, warum der so beliebt ist." Tessa grinste ihre Töchter breit an. „Ben...bengalischer Scherbenhaufen!"Phils Mutter schaute kopfschüttelnd auf die Scherben, die sich vor dem was einmal ihre Vitrine war angesammelt hatten, ehe sie zum Weihnachtsmann schaute und ihre Augen zusammenkniff. „Ich hole jetzt eine Schaufel und einen Besen und keiner bewegt sich von der Stelle." Phil schaute seiner Mutter hinterher, die aus dem Zimmer lief. Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht, Tollpatsch Benny zum Weihnachtsmann zu machen. War doch klar, dass das im Chaos endete. So wie sein Vater entspannt in der Ecke stand und grinste, hatte er das aber wohl einkalkuliert.
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Schuss und Treffer - Eigentor Teil 16 ✔️
Teen FictionRosas Leben läuft in perfekten Bahnen. Sie hat gerade ihr Abitur als Schulbeste bestanden. Da bremst sie auch kein Numerus Clausus aus. Ihr Traum vom Veterinärstudium in Berlin ist zum Greifen nahe. Und dann ist da dieser eine Tag, der alles, aber...