Kapitel 60

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„Na meine Kleine, willst du nicht langsam ins Bett gehen?" Alfonso beugte sich zu Rosa und strich ihr sanft über den Arm. „Soll ich dich in dein Zimmer schieben? Es ist schon spät." Es war gerade einmal 21 Uhr. In Spanien wäre das normalerweise eine Zeit, in der man gerade noch gemeinsam am Essenstisch saß. Scheinbar hatten sich Alfonso und Rosa-Maria aber schon dem deutschen Rhythmus angepasst, denn die Spanierin, die ihr gegenüber am Tisch saß, gähnte unübersehbar. „Nein, ich bleibe noch etwas hier draußen." Rosa schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht schon wieder in ihrem Bett liegen. In dem Zimmer fiel ihr langsam die Decke auf den Kopf. Außerdem wäre sie spätestens um vier Uhr morgens schon wieder wach, wenn sie jetzt schon schlief. Wer nichts tat, brauchte auch nicht so viel Schlaf. „Okay, dann genieße noch ein bisschen die schöne laue Luft. Sehr lange wird es hier nicht mehr so schön warm sein." Alfonso schüttelte sich leicht. Wahrscheinlich grauste ihn der Gedanke an die deutsche Wettersituation im Herbst und Winter. Aber das war ja mal ein Aufhänger, um eine Frage zu stellen, die Rosa schon länger auf den Nägeln brannte. „Wie lange wollen Rosa-Maria und du eigentlich noch hier bleiben?" Rosa wusste schließlich, dass auf die Spanierin auf Mallorca auch eine Familie mit Enkelkindern warteten. „Wir bleiben, bis du wieder richtig laufen kannst", kam die prompte Antwort. Das hatte Rosa fast befürchtet. „Dann wollt ihr also die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen und euch hier für immer niederlassen?", platzte es aus ihr heraus. Alfonso schaute sie empört an. „Princesa, was sagst du denn da. Du wirst bald wieder laufen. Noch vor Weihnachten werden Rosa-Maria und ich auf der Insel zurück sein. Das hat uns dein netter Doktor versprochen." Max! „Da hat er euch dann wohl angelogen." Rosa schlug mit ihren flachen Händen auf ihre Oberschenkel. „Da passiert nichts mehr." „Princesa, das darfst du nicht sagen und schon gar nicht glauben." Alfonso zog sie ganz fest in seine Arme. Rosa war nicht ganz klar, ob er das tat, um sie oder sich selbst zu trösten. „Und wieso nicht? Ihr müsst alle mal aufhören euch alles schön zu reden. Ich bin und bleibe ein Krüppel", platzte es wütend aus ihr heraus. War sie denn hier die einzige, die es schaffte der Wahrheit ins Auge zu schauen? Seit zwei Wochen mühte sich ihre Tante mit ihr mit der Reha ab und sie hatte bisher keinerlei Fortschritte gemacht. Wie sollte sie das auch. Wenn etwas richtig Schrott war, dann konnte man das auch nicht durch ein paar alberne Turnübungen wieder in Ordnung bringen. Es war eigentlich schade um die Zeit, die ihre Tante Vicky dafür opferte. „Dieses Wort möchte ich nie wieder aus deinem hübschen Mund hören, Princesa." Alfonsos Stimme hatte einen bestimmenden Klang angenommen, aber sein Blick war weich und seine Augen glitzerten leicht. Mist, jetzt hatte sie ihn verletzt. Das wollte sie doch nicht. Sie liebte diesen Mann wie einen eigenen Opa, dem sie auf keinen Fall weh tun wollte. Aber er musste doch auch begreifen, wie unsinnig seine Hoffnung war. Es würde sich nie wieder etwas an ihrem Zustand ändern. Das lag doch nicht an ihr, sondern an diesen dämlichen gebrochenen Wirbeln. „Aber es ist doch nur die Wahrheit", schluchzte sie. Alfonsos Arme schlangen sich noch fester um sie. Er drückte ihr einen Kuss auf ihren Scheitel, ehe er sich wieder von ihr löste und ihr in die Augen schaute. Mit seinem Daumen wischte er ihr die Tränen, die sich einfach so aus ihren Augen gestohlen hatten, zärtlich weg. „Die Wahrheit ist immer nur das, was wir zur Wahrheit machen, Princesa. Ich weiß, dass alles gerade sehr schwer für dich ist. Deshalb sind Rosa-Maria und ich auch hier bei dir, um dir zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Dass das nicht leicht ist, wissen wir alle. Wir wissen aber auch, dass du stark bist und das schaffst." „Aber das liegt doch nicht an mir, sondern daran, dass meine Wirbelsäule kaputt ist. Wie soll ich das denn schaffen?" Wieso sah denn keiner, dass sie es nicht selbst in der Hand hatte wieder gesund zu werden? Der Zug war mit dem Sturz abgefahren. „Wenn du selbst nicht an dich glaubst, dann glaubt auch dein Körper nicht an dich. Bist du dir sicher, dass du dich wirklich so bemühst, wie du es könntest? Denk einmal darüber nach, ob du wirklich bei Vicky alles gibst, was du kannst. So, ich gehe jetzt ins Bett. Wenn etwas ist, rufst du mich einfach über das Handy an und ich komme." Rosa nickte. Hier in Phils Haus konnte sie sich ja alleine mit dem Rollstuhl überall hinbewegen. Und wenn sie nicht alleine ins Bett kam, dann würde sie eben die ganze Nacht im Rollstuhl sitzen bleiben. Schlaf und Erholung brauchte sie sowieso nicht. Wovon und wofür auch? An der Terrassentür drehte sich Alfonso noch einmal zu ihr um. „Und wenn es nötig ist, bleibe ich auch für immer in Deutschland, auch wenn das gar nicht gut für meine alten Knochen ist, mit euren sibirischen Wintern", zwinkerte er ihr zu und verschwand.
Hatte Alfonso wirklich recht damit, dass sie sich zu sehr hängen ließ? Nein, hatte er nicht. Sie konnte ihre Beine einfach nicht bewegen, egal wie viel Mühe sich Vicky auch gab. Wofür sollte sie sich auch anstrengen? Was wartete denn auf sie, wenn sie wieder laufen könnte, falls es denn wirklich möglich wäre? Nichts wartete auf sie. Dalia war für immer weg. Eine kalte Hundeschnauze stupste ihre Hand an. „Nado, was willst du denn?" Dieser kleine Kerl war wirklich ständig um ihren Rollstuhl herum und ließ sie kaum aus den Augen. Wieder stupste er sie an. „Du willst von mir etwas zu fressen haben." Rosa schaute zu dem Tisch vor ihr. Da lag die Schale mit den Hundekeksen. Sie streckte ihre Hand aus. Verflucht! Warum kam sie da nicht ran. Sie stützte sich mit einer Hand auf die Lehne des Rollstuhls und versuchte sich noch mehr zu strecken. Es reichte nicht. „Mist!Mist!Mist!" Wütend schlug Rosa mit ihrer Hand auf den Tisch. Der Schmerz schoss durch ihre Handfläche. Sie schaffte es nicht einmal dem Hund ein paar Leckerlies zu geben. Wozu taugte sie überhaupt noch? Zu nichts! „Nado, verschwinde einfach und suche dir ein anderes Frauchen. Ich bin einfach nur überflüssig." Dieser kleine Kerl sollte nicht wegen ihr so ein jämmerliches Dasein führen müssen. Sie schob ihn mit ihrer Hand entschieden weg. Der Kleine fiepte auf und schmiegte sich sofort wieder an ihre Hand. Manno, warum begriff er denn nicht, dass das bei ihr kein Hundeleben war? Er hatte mehr verdient nach seinem schweren Start ins Leben. Sie hatte ihn doch nicht umsonst nach dem Unfall gerettet. Er sollte ein schönes Hundeleben haben und nicht nur ihre Strümpfe ausziehen. Nein, er sollte über die Wiesen tollen und Schmetterlinge jagen. So ging das einfach nicht weiter. Sie konnte doch nicht alle mit in ihr Unglück reißen. Wenn die anderen es nicht begriffen, dann musste sie eben selbst Maßnahmen ergreifen und sich noch mehr zurückziehen und abschotten bis die anderen es endlich auch begriffen hatten und wieder mit ihren eigenen Leben weitermachten. Sie hatte genug von diesen ganzen mitleidigen Blicken und diesen aufopfernden Besuchen.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt