Kapitel 96

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Phil schob den Rollstuhl so schnell er konnte in die Notaufnahme. Marshmallow war schon vorausgesprintet und er hielt Ausschau nach ihr. Er entdeckte ihren bunten Lockenschopf an der Anmeldung. Ihre Anspannung schien in jeder Pore greifbar. Okay, das war ja auch kein Wunder. Phil schaute sich auf dem Weg zu Marshmallow um, ob er hier auch jemanden aus seiner Familie entdeckte. Erleichtert atmete er auf, dass niemand zu sehen war. Das hieß dann wohl, Benny war nicht dabei gewesen. „Da seid ihr ja schon!" Hinter Phil ertönte die atemlose Stimme seiner anderen Hälfte. „Max!" Rosa drehte sich in ihrem Rollstuhl und sah seinen Bruder an als wäre er der Messias, der gerade erschienen war. Okay, das war verständlich, schließlich hatte er sie ja wieder so zusammengeflickt, dass sie wieder laufen können würde. Das sorgte schon für einen gewissen Heldenstatus. Da konnte er als einfacher Tierarzt nicht mithalten. „Hast du schon etwas erfahren?", wandte er sich an seinen Bruder. Max nickte und deutete mit seinem Kopf in Richtung der Anmeldung. „Lass uns erst einmal noch Delphie einsammeln und dann reden wir." Ja, das machte Sinn. Sie wollte mit Sicherheit auch wissen, was sein Bruder bis jetzt in Erfahrung hatte bringen können. „Schwester Nadja, die Formulare können Sie mir mitgeben. Ich kümmere mich um alles." Max war hinter den Schalter getreten und nahm dem Mädel den Papierwust ab, den sie Delphie gerade reichen wollte. „Natürlich, Doktor Reus." Unglaublich welche Autorität seine andere Hälfte hier besaß. Normalerweise war er ja der Weichgespülte von ihnen beiden. „So kommt mit!" Max lief ihnen voraus und sie folgten ihm in eine ruhige Ecke. „Weißt du schon was ist und wie es ihm geht?" Marshmallow war seit dem Betreten des Krankenhauses noch blasser um die Nase geworden. „Komm mal her, Kleine." Er zog seine Schwägerin in seine Arme. „Du musst dir keine Sorgen machen. Der Unfall war zwar heftig, aber so wie es aussieht, haben meine Kollegen bis jetzt keine lebensbedrohlichen Verletzungen festgestellt." Delphies Anspannung schien von ihr abzufallen, denn sie sackte in Max Armen zusammen. „Bis jetzt?" kam es neben Phil von Rosa. „Heißt das, sie könnten noch etwas finden?" Bei ihr schien die Anspannung eher gewachsen zu sein. „Ja und nein. Normalerweise sollten sie nichts mehr finden. Momentan wird gerade ein CT gemacht, um sicher zu gehen und das Vorgehen bei den Knochenverletzungen zu konkretisieren." „Knochenverletzungen?" Rosa hatte fast gequietscht beim Ausstoss dieses Wortes. Klar war da wieder die Erinnerung an ihren Unfall. „Ja, es gibt den einen oder anderen Knochen mit Fraktur. So wie es bisher aussieht, ist davon auszugehen, dass er operiert werden muss, um das zu versorgen, so dass keine Folgeschäden zurückbleiben." „Folgeschäden?" Diesmal schossen Rosa Tränen in die Augen. Verflucht! Das war hier einfach zu viel für sie. Ihr eigener Unfall war doch kaum drei Monate her und jetzt das. Kein Wunder, dass sie so aufgewühlt war. „Keine Angst, es wird keine geben. Dafür sorgen wir hier schon. So schlimm sieht das bisher nicht aus, dass man das nicht mit ein paar Fixierungen hinbekommt." Max war schon voll im Chirurgenmodus. Delphie löste sich aus seiner Umarmung. „Los, worauf wartest du dann noch hier? Ich will, dass du ihn zusammenflickst. Dir vertraue ich. Ab an die Schrauben und die Bohrmaschine." Marshmallow schob Max in die Richtung, in die die ganzen Patienten verschwanden, die aufgerufen wurden. Max nickte und zwinkerte seiner Schwägerin zu. „Keine Angst. Ich passe schon auf ihn auf und gebe euch Bescheid, sowie es etwas Neues gibt. Ihr könnt so lange auch nach Hause fahren. Das dauert bestimmt ein paar Stunden bis ihr zu ihm könnt." Delphie schüttelte entschieden den Kopf. „Vergiss es. Ich bewege mich hier keinen Quadratmillimeter weg. Sag ihm, dass ich hier bin und warte bis er wieder fit ist." So entschieden wie sie wirkte, bezweifelte Phil, dass er sie wenigstens in die Cafeteria bekam. „Ja, sag ihm, dass ich auch hier bin", rief Rosa Max hinterher, der sich schon eilig auf den Weg gemacht hatte. „Hat er mich überhaupt gehört?" Sie schaute Phil verzweifelt an. „Ich möchte doch, dass er weiß, dass...." „Wisst ihr schon genaueres?" Was machte denn auf einmal seine Schwägerin Leo hier? „Hast du Max gefahren?" Sie schüttelte den Kopf. „Quatsch! Ich musste ja erst noch die Kiddies verkaufen. Die sind jetzt bei deinen Eltern. Fini!" Leo stürzte zu ihrer Schwester und schloss sie in die Arme. Okay, das war gut, wenn Phil sich nicht um Marshmallow kümmern musste. Dann konnte er sich auf Rosa fokussieren, die ziemlich durchzuhängen schien. Das war ja auch kein Wunder. Was musste ihr alles durch den Kopf gehen.
„Alles okay bei dir?" Phil beugte sich zu Rosa hinunter. Er schaute sie besorgt an. Seinen Arm hatte er um ihre Schulter gelegt. Zum ersten Mal seit dem Anruf spürte sie von seinem Arm ausgehend etwas Wärme in ihren Körper fließen. Ja, ihr war eiskalt oder man konnte auch sagen, ihr Körper fühlte sich wie tot an. Der Geruch der Krankenhausluft ließ Panik in ihr aufsteigen. Was, wenn die Operation nicht erfolgreich war. Es gab so viele Komplikationen, die eintreten konnten. Wieso war dieser Unfall überhaupt passiert? Beziehungsweise, was war genau passiert? Wer trug die Schuld daran? Waren die Verletzungen wirklich nicht so schlimm wie Max behauptete? Wahrscheinlich hatte er ihre Verletzungen vor ein paar Monaten genauso harmlos eingeschätzt. Waren für einen Unfallchirurgen nicht alle Verletzungen harmlos, die nicht dafür sorgten, dass der Patient verstarb? Bei dem Gedanken wurde ihr speiübel. Gab es nicht auch junge kräftige Patienten, die dann trotzdem eine Operation nicht überstanden, weil ihr Kreislauf versagte? Es gab so viele Fragen und so wenige Antworten. Es war zum Verrücktwerden. Und alles, was ihr blieb, war abwarten und Daumen drücken oder ein Stoßgebet gen Himmel schicken.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt