Kapitel 58

197 42 14
                                    


Rosa saß mit ihrem Rollstuhl auf der Terrasse von Phils Haus. Um sie herum wuselten jede Menge Leute, die sie alle kannte und mochte. Trotzdem fiel es ihr schwer, sich einfach zurückzulehnen und zu entspannen. Okay, zurückgelehnt war sie ja sowieso den ganzen Tag in dem Rollstuhl. „Na, ist die Überraschung gelungen?" Phil zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. „Es ist mir ziemlich schwer gefallen, nichts zu erzählen." Schön, das es ihm schwer gefallen war. Ein paar Worte von ihm wären nett gewesen, damit sie hier nicht so total unterbelichtet aufgeschlagen wäre. Schließlich war sie die, die mit dieser Entscheidung leben musste, ohne überhaupt gefragt worden zu sein, ob sie damit einverstanden war. Man hatte einfach über ihren Kopf hinweg entschieden. War es eigentlich gleichbedeutend, wenn man im Rollstuhl saß und nicht mehr laufen konnte, dass man dann auch unmündig war? Wurden alle Leute mit Behinderung eigentlich wie unmündige Kleinkinder ohne Entscheidungsgewalt behandelt? Okay, das war jetzt auch nicht wirklich gerecht. Rosa wusste schon, dass ihre Familie nur das Beste für sie wollte. Trotzdem! Vor dem Unfall hatten ihre Eltern sie in alle Entscheidungen mit einbezogen und sich ihren Standpunkt zu der Sache angehört, sogar als sie noch nicht volljährig war. Und jetzt....jetzt hatten sie einfach so entschieden. Die Frage war ja auch, was diese Entscheidung zu bedeuten hatte. Also auf den ersten Blick natürlich, dass ihre Eltern sie wieder in ihrer Nähe haben wollten. Obwohl sich dann die Frage stellte, warum sie nicht bei ihnen wohnte. Okay, das ließ sich einfach beantworten. Ihr Elternhaus war nicht brauchbar für einen Rollstuhl. „Warum hier und nicht woanders?", rutschte es ihr heraus. Phil hatte mit seiner Praxis genug um die Ohren, da brauchte er nicht noch einen Pflegefall, um den er sich kümmern musste und der ihm zusätzliche Arbeit bereitete. „Mein Haus ist als einziges wirklich barrierefrei." Phil verzog sein Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich mit Rosa-Maria die beste Köchin und Haushaltsfee und mit Alfonso den besten Unterhalter und Bespaßer." Rosa musste schlucken als ihr die Bedeutung dieser Sätze richtig klar wurde. Alfonso und Rosa-Maria würde sie hier betutteln. Das war gleichbedeutend damit, dass man nicht davon ausging, dass sie sich in irgendeiner Weise selbst versorgen konnte. Und noch etwas weiteres wurde ihr klar. Man war sich scheinbar sicher, dass sich ihr Zustand sowieso nicht mehr änderte, so dass ein weiterer Aufenthalt in der Klinik im Sauerland, um sie wieder körperlich und bewegungstechnisch zu rehabilitieren, völlig unnötig war. Ja, scheinbar waren sich alle sicher, dass sie sowieso ihr Leben lang als Krüppel so im Rollstuhl bleiben würde. Also hatten ihre Eltern auch das eingesehen, was sie schon die ganze Zeit für sich realisiert hatte. Warum überraschte sie das? Eigentlich sollte sie doch glücklich sein, dass die anderen jetzt aufhören würden, ihr weiter unbegründet Hoffnung zu machen. Trotzdem fühlte es sich irgendwie....irgendwie so falsch an. So als hätte sie nicht einmal mehr die Chance zu versuchen etwas von ihrem alten Leben zurückzubekommen. Vielleicht musste sie sich einfach eingestehen, dass dort in ihr trotz allem noch ein kleiner Funke Hoffnung geglimmt hatte, der jetzt völlig erloschen war. Aber das war es nicht wirklich, was gerade so weh tat. Nein, es war viel mehr das, dass man sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, aber scheinbar niemand den Mut besaß, mit ihr offen darüber zu reden. Wieso hatten ihre Eltern sich im Krankenhaus nicht einfach zu ihr gesetzt und mit ihr darüber gesprochen, dass sie sich mit ihrem jetzigen Zustand abfinden musste? Wieso hatte Max ihr nicht gesagt, dass es für sie Endstation Rollstuhl hieß. Es wäre ja nicht so gewesen, dass sie das komplett überrascht und aus dem Hinterhalt getroffen hätte. Genaugenommen hatte sie schon die ganze Zeit auf so ein Gespräch gewartet. Aber scheinbar hatte noch immer niemand den Mut mit ihr darüber zu reden. Und das war ziemlich ernüchternd. „Heh Nado, lass das!" Rosa schimpfte mit dem jungen Hund, der an ihren Badeschlappen zog. Andere Schuhe hatte sie ja seit dem Unfall nicht mehr getragen. Auch etwas, an das sie sich wohl für den Rest ihres Lebens gewöhnen musste, weil sie für die anderen schnell über die Füße zu stülpen waren und weniger Zeitaufwand bedeuteten. Aber was sollte es? Laufen konnte sie ja sowieso nicht mehr, also waren Schuhe eigentlich überflüssig. Vielleicht sollte sie sich wenigstens eine bunte Palette an Adiletten zulegen. Alleine der Gedanke grauste sie schon. „Nado!", setzte sie noch einmal nach, weil der Kleine sich nicht mit ihrem Latschen begnügte, sondern auch an ihrer Socke zog. „Sorry, da will wohl jemand zeigen, was er schon kann." Phil grinste sie breit an und beugte sich hinunter zu dem Hund. „Das hast du fein gemacht", lobte er ihn und nahm dem Kleinen die Socke ab, die er von Rosas Fuß gezogen hatte. Wieso lobte er ihn? Das war doch kein Grund einen Hund auch noch zu loben, wenn er sich kein adäquates Hundespielzeug suchte, sondern Latschen und Socken zerkaute. „Das hast du aber echt schon gut mit ihm trainiert." Rosas Tante Vicky hatte sich zu ihnen gesellt und kraulte dem Hund den Kopf. Was meinte sie mit trainiert? Sollte das heißen, dass Phil diesen Blödsinn dem Hund beigebracht hatte? „Ich finde die Idee echt toll, dass Phil den süßen Zwerg zum Assistenzhund ausbildet." Assistenzhund! Hatte Phil sie nicht vorhin als sein Frauchen bezeichnet als er sie am Krankentransport mit dem Hund auf dem Arm begrüßt hatte? Okay! Das machte ihre Lage noch deutlicher. Nicht einmal Phil glaubte daran, dass sich an ihrer Situation noch etwas änderte. Er war sich sicher, dass sie sogar auf die Hilfe eines Hundes angewiesen war, der ihr die Schuhe und Strümpfe auszog. Das hieß, ein Hund war zu mehr in der Lage als sie. Rosa musste schlucken.

Schuss und Treffer -  Eigentor   Teil 16      ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt