Kapitel 1: Dissonanz

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Mit zu viel Schwung warf ich meinen Rucksack auf die Gepäckablage und das Mädchen, das mir im Vierer gegenüber saß und eine gespielt gelangweilte Miene aufgesetzt hatte, zog provokant die Augenbrauen hoch. Offensichtlich ging ich ihr jetzt schon auf die Nerven. Ich reagierte mit einem nicht minder provokanten Zucken meiner Augenbraue, zog mein Portemonnaie und mein Handy aus meinen Hosentaschen, legte sie auf den abgegriffenen Tisch zwischen meiner reizenden Reisebegleitung und mir und setzte mir meine Kopfhörer auf. Vielleicht würde diese akustische Barriere zwischen dem Hipster-Mädchen mit Jutebeutel, 7/8 Jeans mit Loch überm Knie und diesem Dutt, den mittlerweile ungefähr jede zweite Frau unter fünfundzwanzig trug, die Fahrt angenehmer werden lassen. Immerhin würden wir bis Berlin gemeinsam auskommen müssen. Das sie vorher aussteigen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Dazu schrie dieser naturfarbene Jutebeutel zu laut Hauptstadtstudentin. Als der Zug anrollte, wandte ich meinen Blick zur Seite und sah aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne, das Gras auf den Wiesen färbt sich nach dem heißen Sommer stellenweise gelb. Der Himmel war wolkenlos und blau. Es war heiß. Es wäre der richtige Tag gewesen, um an irgendeinem See im Schatten zu liegen und ab, zur Erfrischung ins Wasser zu springen und dabei ein kühles Radler zu trinken. Stattdessen hatte ich ein missglücktes Familienessen hinter und eine lange Zugfahrt vor mir. Nach Berlin zu fahren war sicher nicht nur deswegen ein Fehler, weil ich einen perfekten Sommertag in einem stickigen ICE vorüberziehen ließ. Ich hatte nicht Bescheid gesagt. Ich hatte kein Hostel gebucht. Ich hatte einfach nur ein Ticket gekauft und mich in diesen Zug gesetzt. Ob es eine dämliche Kurzschlusshandlung oder eine gute Bauchentscheidung war, würde ich unweigerlich sehen. Ich schloss meine Augen, um mich zu beruhigen und atmete tief durch. Du bist so dämlich, Lukas. Ein Anruf wäre schon nicht verkehrt gewesen. Ich hatte ihn aber nicht getätigt und selbst jetzt schienen meine Finger von meinem Handy fast abgestoßen zu werden. Weil du genau weißt, dass sie dich auf den Heimweg schicken würde, lenkte mein Verstand ein und verdrehte die Augen. „Aber okay, here we go again." Offensichtlich. Meine Freunde hatten mich gewarnt vor diesem Kurztrip zum Brandenburger Tor. Meistens scherzhaft, manchmal ziemlich ernst. „Wir lieben Inga, man, wirklich, aber du auch. Und deswegen kannst du da nicht hin." Das hatte Juan mir erst vor ein paar Tagen bei Pizza und Rotwein bei unserem Lieblingsitaliener eingeschärft. Da hatte ich ihm recht gegeben. Es war keine gute Idee. Dann aber hatte ich gestern meine Masterarbeit abgegeben. Ich hatte sie mit Herzklopfen zum Prüfungsamt getragen, drei Exemplare der Sachbearbeiterin ausgehändigt und sie ihr vor Nervosität fast wieder entrissen. Sie hatte mit einem Blick auf meine zuckenden Fingern nur mitleidig gelächelt. Vermutlich war ich nicht der erste Student, der Probleme damit hatte, seine Abschlussarbeit loszulassen und über ihren Tisch zu schieben. Tatsächlich hatte ich nicht gezuckt, weil mir plötzlich noch ein Rechtschreibungsfehler auf der ersten Seite aufgefallen wäre, sondern weil ich nicht wollte, dass es vorbei war. Mein Studium war vorbei, das Studentsein war mit einem Schlag unwiederbringlich vorbei. Der Abgabestress hatte mir keine Zeit gelassen, das zu begreifen. Mir kam es wie gestern vor, dass ich zuhause ausgezogen und mit Inga zusammengezogen war, in die kleine Wohnung im Flussviertel, von der aus man zu Fuß keine zehn Minuten brauchte, bis man am Wasser war; in der wir Silvester- und Geburtstagspartys gefeiert hatten, zu Weihnachten mit Freunden Glühwein getrunken und Waffeln gegessen hatten und in der beinahe jedes Mal zum Semesterende vorgetrunken worden war, bevor alle geschlossen in die Stadt weitergezogen waren. Diese Wohnung war nicht nur ein Zuhause geworden, sondern vielmehr der Mittelpunkt eines großen Freundeskreises und irgendwie meines ganzen Lebens. Und eben dieses Leben hatte ich in den letzten Jahren so wahnsinnig geliebt, einfach alles daran- bis Inga ausgezogen war. Seitdem war es nicht mehr komplett, nicht mehr richtig. Es hatten sich Misstöne eingeschlichen.


 Als ich vom Prüfungsamt in unsere Wohnung zurückgekehrt war, hatte ich mich seltsam leer gefühlt, weil ich wusste, dass das Loslassen unvermeidbar wurde. Meine Freunde zogen weg. Inga war schon weg. Ich würde neu anfangen müssen – und darin war ich nicht besonders gut. Marie würde dem sicher mit vor Wut bebender Unterlippe zustimmen. Also hatte ich, getrieben von hilflosem Aktionismus, versucht, unsere Wohnung auszumisten. Ich hatte in den Schubladen unterm Bett gekramt und die letzten Sachen, die Inga gehörten und die dort noch vergraben lagen, herausgeholt- um sie entweder wegzuwerfen oder in einem Paket nach Berlin zu schicken. Dabei war mir ihr Skizzenbuch in die Hände gefallen. Inga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen verloren und fast vor mir gesehen, wie sie am Schreibtisch gesessen und sich manchmal für Stunden über das Papier gebeugt hatte. Es war ein schmerzhafter Trip in die Vergangenheit gewesen und er hatte unerwartet früh in der Mitte ihres Skizzenbuchs mit der letzten Zeichnung geendet. Starr hatte ich auf einen kleinen, gelben Bären geschaut, der seinen Arm um ein rosafarbenes Ferkel legte. Die beiden saßen auf den Stufen vor unserem Institut, auf denen Inga und ich mehr als einen Kaffee gemeinsam getrunken hatten. Der Bär hielt seinen obligatorischen roten Luftballon fest. "Any day spent with you is my favourite day. So today is my new favourite day." Dieses Zitat von Pu dem Bären hatte sie daneben gekritzelt, ebenso das Datum, an dem sie den honigvernarrten Pu und Ferkel auf unseren Campus transferiert hatte. Das passt nicht zusammen, war mein erster Gedanke und er war mit jedem verstreichenden Moment lauter geworden. Das passt nicht. Dann hatte ich ein Ticket gebucht. Und jetzt saß ich im Zug. Weil Pu der Bär einfach niemals log. 



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Pu der Bär, ein Sommertag und Lukas auf dem Weg nach Berlin. Und ihr so an diesem schönen Sonntag? 

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