Ich brauche dich

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 Reis dich zusammen.

Etwas verkrampft setzte ich mich an den Tisch.  Verwunderung löste dann die leichte Anspannung, da an meinem Platz kein Teller stand, allerdings lag einen Gabel da. Ich sah etwas verwirrt zu Anita, dieses Lächelte aber nur.

„Ich dachte du willst vielleicht direkt aus der Schüssel essen, so wie du es als Kind auch immer gemacht hast." Damals konnte ich ja noch nicht einmal über den Rand schauen.

Bei dieser Erinnerung, musste ich allerdings dann doch lächeln. Als Kind war ich nämlich der festen Überzeugung gewesen, dass es um Welten besser schmeckt, wenn man den Nudelsalat direkt aus der Schüssel isst. Es konnte aber auch daran gelegen haben, dass ich als Kind immer so gierig gewesen war und deshalb immer große Portionen den kleinen vorgezogen hatte. Als ich dann in die Pubertät kam, ging ich dann auch ziemlich auseinander. Zwar war ich nicht dick, aber ich hatte eine leichte „Tendenz" zum Übergewicht. Mit dem Mobbing und dem sinkenden Selbstwertgefühl purzelnden dann auch die Pfunde.

Anita schob mir schließlich die Schüssel vor die Nase und ich gab meiner Gier dann doch nach. Eine Nudel nach der anderen wanderte mir in den Mund. Es schmeckt immer noch wie früher.

„Und schmeckts?" Ich nickte und lächelte zufrieden. Mein Vater blieb allerdings still. Ich war mir nicht mal sicher, ob er von seinem Teller hochgesehen hatte.

Zwanzig Minuten später waren wir fertig mit dem Essen und ich half noch Anita mit dem Abräumen und Einräumen des Geschirrs. Mein Vater war wieder verschwunden. Lange hallte ich das sicher nicht mehr aus.

Anita packte den restlichen Nudelsalat in eine milchige Tupperware-Box und stellte sie in den Kühlschrank. Schließlich verabschiedete ich mich von Anita und ging die Treppe wieder hinauf. Ich wollte gerade in mein Zimmer gehen, als mein Vater mir aus dem Badezimmer entgegen kam. Wie erstarrt blieb ich vor ihm stehen und zum ersten Mal seit Wochen konnte ich auch auf seinem Gesicht eine überraschte Reaktion ablesen. 

„Hallo Papa." Noch während ich die Worte aussprach erkannte ich wie sich etwas an seinem Blick veränderte. Er sieht so unglaublich traurig aus.

„Hallo." Mehr sagt er nicht und ging auch schon an mir vorbei, doch ich wollte dass nun nicht so einfach auf mich sitzen lassen. Ich drehte mich zu ihm um und sammelte all meinen Mut.

„Papa?... Kann ich mal kurz mit dir reden?" Er blieb wirklich stehen und ich begann schon so etwas wie Hoffnung in mir heranwachsen zu sehen, also sprach ich schnell weiter.

„Ich...also wegen..."Nun komm schon!

„Wegen der,...der ganzen Schwangerschaftssache..." Zwar konnte ich sein Gesicht nicht sehen, doch an seiner Schulterpartie konnte ich die Anspannung deutlich ablesen. 

„Ich hätte gerne, dass du es verstehst,...dass du es auch akzeptierst....dass ist wirklich wichtig für mich." Meine Stimme begann etwas zu zittern und sein Körper spannte sich mehr an.

„Das Kind ist..." Die leise Stimme meines Vaters unterbrach mich.

„Bitte!...lass es." Seine Stimme war etwas brüchig und dennoch bestimmt. Er klingt nicht wie mein Vater.

„Aber Papa!" Doch er ließ keine Wiederrede zu. Er ging einfach weiter und schien mir nicht mehr zuzuhören. 

„Papa! Bleib da." Ich konnte zusehen wie sein Körper hinter der Tür verschwand. Kleine Tränen begannen meine Wange hinunter zu rinnen. Schnell drehte ich mich herum und rannte in mein Zimmer. Die Tür schmiss ich zu und rannte weiter zu meinem Bett. Darauf sank ich dann zusammen. Immer mehr Tränen liefen mir über die Wangen und auch wenn ich versuchte es zu unterdrücken, so begann ich auch zu schluchzen, zwar so leise, wie es mir nur möglich war. Es schien für mich aber immer noch zu laut. Weinend und auf den Bauch liegend kroch ich weiter über mein Bett. In der Ecke rollte ich mich dann zusammen und drückte meinen Körper so fest es nur ging gegen die weiße Wand. Mein Bauch vibrierte durch die lauten Schluchzer. Hunderte von malen strich ich mir durch die Haare, damit sie nicht auf meinem Gesicht klebten. Irgendwann krallte ich dann einfach meine Finger in meine Haare und weinte weiter. Er hasst mich also wirklich. Mein eigener Vater hasst mich. Aber ich brauch dich doch Papa. Warum lässt du mich jetzt auch allein?

Irgendwann kroch ich immer noch weinend an der Wand empor, bis ich aufrecht an der Wand lehnte. Mit meinen zu Fäusten gekrümmten Fingern schlug ich immer wieder gegen die Wand. Wieso? Ich hab doch nichts böses gemacht. Papa, bitte hass mich nicht.

Irgendwann lehnte ich dann nur noch kraftlos an der Wand und starrte auf meine Bettdecke. Eine Hand wanderte langsam über die Oberfläche, während meine Sicht immer noch von einem dicken Tränenschleier geschwächt wurde. Dabei wollte ich doch stark sein. Für mein Kind. Sie soll keine schwache Mutter bekommen.

Meine Hand strich weiter über die Decke, als mir plötzlich etwas rotes ins Auge stach. Es war von den Tränen immer noch alles so verschwommen, dass ich mir nicht ganz sicher war, also hob ich die Hand langsam näher an mein Gesicht. Mit der anderen Hand strich etwas von dem Tränenschleier weg, besser sehen zu können. Ich erkannte rote schlieren. Sie waren ganz dünn und noch relativ frisch. Die sind mir vorher gar nicht aufgefallen.

Wenn man so hinsah vielen sie gar nicht wirklich auf, doch inzwischen erkannte ich sofort etwas, dass zuvor nicht auf meiner Haut gewesen war. Die dünnen roten schlieren zogen sich von etwas unter meinem Handgelenk ein ganzes Stück hinunter bis etwas zwischen der hälfte und dem letzten Drittel meines Oberarmes. Es erinnerte an ein dünnes Muster oder eine Zeichnung, die mir irgendwie bekannt vorkam. Mit meiner zweiten Hand begann ich darüber zu streichen. Man spürte es wirklich nur ganz leicht, wenn man über meine Haut strich. Hatte ich mich vielleicht heute morgen in der Schultoilette verletzt?

Immer wieder fuhr ich es ab und versuchte zu denken, doch meine Gedanken wurden immer noch von Selbstzweifel heimgesucht. Ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren und merkte es deshalb auch erst reichlich spät, dass neben den kleinen roten Schlieren nun auch dickere rote Rinnsale verliefen. Ich hatte mich so von dem Zweifel in meinen Kopf einnehmen lassen, dass ich nicht gespürt hatte, wie meine Nägel sich mit jeder Bewegung tiefer in meine Haut gebohrt hatten. Eigentlich hätte ich die Hand nun wegziehen sollen und schnell die Wunde ebenfalls säubern sollen, doch stattdessen begann ich langsam und überraschender weiße vorsichtig meine Nägel weiter zu ziehen. Mehr und mehr Rinnsalen begannen sich zu bilden und teilweise ineinander zu verfließen. Wie unter fremder Kontrolle begann mein Blut nun ein eigenes Muster zu bilden. Es berührte die roten Schlieren nicht. Es rann malerisch über meinen Arm und bildete ein beinahe genauso kryptisches Muster. Ich stoppte den Blutfluss nicht, doch ich machte auch nicht weiter. Mein Blick folgte einfach weiter dem Blut, dass über meinen Arm zu laufen begann. Einzelne Tropfen vielen auch auf meine Beine, doch zum Glück nicht auf die Decke. 

Meine eine Hand hob sich langsam wieder von dem Arm und so komisch es auch für mich im Nachhinein klingen mag, aber in diesem Moment dachte ich daran, dass das Blut vielleicht auch ein schönes Muster an meinem Hals ziehen könnte. Langsam hob ich also meine Hand zu meinem Hals und begann darüber zu streichen, doch bevor ich auch nur irgendetwas weiteres machen konnte, da begann es in meinem Kopf immer stärker zu dröhnen. Die Folge war ein plötzlicher Anfall von Kopfschmerzen und auch eine Stimme begann aufzutauchen. Sie hielt mich zwar von dem ab, was ich vor gehabt hatte, dennoch tat dies vielleicht sogar noch mehr weh, als die Wunde.

Warum?

Bitte nicht. Tu mir das jetzt nicht an.

Gabriels Worte hallten wieder lautstark durch meinen Kopf und ich begann mich noch schlechter zu fühlen, auch wenn ich ein paar Sekunden zuvor gedacht hatte es könnte nicht mehr schlimmer werden.
Ich weiß es geht mich nichts an, doch ich kann nicht verstehen wie..

Bitte bleib still.

Vor meinem geistigen Auge erschienen einzelne Bilder von diesem Abend. Gabriels schockierter Blick flammte immer wieder auf. Warum hast du mich denn damals nicht einfach in ruhe gelassen. Es hätte dich ja nicht interessieren müssen.

Ich will es aber wissen.

Verzweifelt drückte ich mir meine Hände an meine Ohren und versuchte so Gabriels Worte aus meinem Gewissen zu sperren. Ich wollte sie einfach nicht hören, denn sie taten einfach nur weh. Mit jeder Sekunde begann ich mich schlechter zu fühlen, genau wie an jenem Tag. Ich wollte einfach nicht das jemand von dieser Sache wusste. Niemand sollte mich nach dem beurteilen.

Sag es mir. 

Warum kannst du mich nicht in ruhe lassen? Du tust mir damit so weh....

Ich könnte dich nie verletzen.

Immer mehr unserer gemeinsamen Zeit fiel auf mich ein. Es fühlte sich an, als würde ich unter einem Haufen von Polstern begraben. Sie sind zwar ganz weich und man kann gut mit ihnen kuscheln, doch sie konnten dich auch ersticken, wenn sich auf dich nieder drücken. 

Niemand wird dir mehr weh tuen. Dafür werden wir schon sorgen.

„Wieso bist du dann nicht bei mir geblieben? Du hast mich alleine gelassen und Menschen haben mir weh getan.... Hast du mich doch angelogen?" Ich flüsterte leise vor mich hin, vielleicht doch in der stillen Hoffnung, dass Gabriel mich hören würde. Meine Gefühle schienen mich währenddessen zu erdrücken und ich begann in Panik zu geraten. Also sprang ich mit zitternden Gliedern auf und versucht nicht zu hyperventilieren. Wie so oft in meiner Vergangenheit rannte ich nun in mein Badezimmer. Hastig sperrte ich die Tür zu und riss die Kleidung schon fast von meinem Körper. Sie begann sich unangenehm anzufühlen und ich wollte sie einfach nur loswerden. 

Lieblos schmiss ich sie schließlich auf den Boden und rannte beinahe schon in die Dusche. Ich zog die Türe mit einem lauten Knall zu und drehte den Strahl auf. Angenehm warmes Wasser begann vom meinem Kopf aus hinab zu meinem Körper zu fließen. Ein Großteil meiner Haare fiel auch in mein Gesicht und schmiegte sich an jede Unebenheit in meinem Gesicht. Zusammen mit den Tränen nahmen sie mir ganz die Sicht. Aus Panik hektisch atmend, drückte ich mich fest gegen die Duschwand. Eine Hand drückte ich fest gegen meine Brust und mit der anderen stützte ich mich an der Wand ab.

„Ich brauche dich. Bitte Gabriel...komm zurück. Ich kann nicht mehr lange..." Mit diesen stillen Worten sank ich langsam zu Boden und kauerte mich dort zusammen.

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