43

696 59 0
                                    

"Ist gut, ich gehe nirgendwo hin.", ich setze mich wieder zu ihr ins Bett und nehme sie vorsichtig in den Arm.
Als wäre sie aus Porzellan.
Sie legt ihren Kopf auf meiner Brust ab und weint unkontrolliert.
Heute ist das zweite mal überhaupt, dass ich sie weinen sehe.
Wenn sie weint fühlt sie sich menschlich an. Es zeigt, dass sie genauso angreifbar und verletzlich ist, wie jeder andere. Ihre Mauer, ihre starke Fassade, die sie errichtet hat, wurde mit einem mal zerstört und ich weiß nicht, wie lange sie brauchen wird, sie wieder aufzurichten.
Und durch ein lautes Schluchtzen von ihr bekomme ich plötzlich unglaubliche Schuldgefühle. Ich war derjenige, der unbedingt bleiben wollte, der sie überredet hat, hierzubleiben. Es ist meine Schuld, dass man sie so zugerichtet hat und dass ihre Mauer gefallen ist. Sie hatten recht, sie ist nichts mehr, als ein Wrack. Sie haben sie so weit gebracht, dass sie sogar Angst vor ihnen hat. Angst vor dem, was sie ihr antun können, eingeschüchtert von dem, was sie ihr angetan haben. Und ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Sie hat immer Pläne gemacht und wusste, was gut und was schlecht ist, was, wenn ich es nur schlimmer mache. Als Delron gestorben ist, hat es drei Tage gebraucht, bis sie überhaupt etwas anderes gemacht hat als rumzusitzen und in die Luft zu starren und eine Woche, bis sie von außen her wieder einigermaßen okay war. Wie lange wird es dann wohl dauern, bis sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Würde wiederfindet und sich wieder an der Welt beteiligen kann. Wieder in der Gegenwart leben kann.

Ich fahre ihr durch die Haare, sie hält immernoch den Stoff meines Shirts verkrampft in der Hand.

"Shh"

Und mir kommen wieder die Bilder vor Augen und dann fällt mir ein, dass ich sie noch was fragen wollte.
Aber das kann warten. Ich will mit ihr darüber reden, wenn sie wieder einigermaßen klar ist.

Zehn Minuten später hört man das Türschloss rascheln und Ashley zuckt auf mir zusammen.
Die Tür geht auf und Gerith kommt rein.

"Hey...", er schließt die Tür und starrt uns unsicher an, "Wie gehts ihr?", fragt er mich, obwohl er deutlich sieht, dass sie wach ist.
Sie hätte jetzt schnippig geantwortet.
Ich stehe auf und sie dreht sich bewusst mit dem Rücken zu uns.

"Das fragst du noch!", ich laufe zu ihm, "Ihr habt sie zerstört, sie ist völlig am Ende, sie weint, seit ich hier bin und ihr rückt nichtmal Verbände raus? Wie kann man nur so unmenschlich sein, ihr wart fünf Männer gegen ein einziges Mädchen, I-Ich werde euch töten, jeden von euch!", flüstere ich wütend.

Er nickt verständnisvoll.

"Ich...äh, ich hab was zu essen für sie mitgebracht.", er zieht ein in Alufolie verpacktes Brötchen heraus, "Colin bringt dich gleich wieder rüber, da hast du dein Essen.", er drängt sich an mir vorbei und läuft zu Ashley rüber.
Ich verfolge jeden seiner Bewegungen.

"Ashley, richtig?", er geht in die Hocke und legt seine Hand auf ihre Schulter, woraufhin sie stark zusammenzuckt und man ein kurzes wimmern hört, "Es tut mir wirklich Leid, sowas sollte keiner erleben, besonders nicht so junge Menschen wie ihr-", er räuspert sich, "Ich wollte nicht mitmachen, aber wer sich Hades verweigert der wird selbst zum Opfer und fliegt raus, wenn er nicht voher schon tot ist. Ich hoffe, du kannst mir das glauben.", er legt das Brötchen auf den kleinen Tisch und kommt wieder zu mir, "Ich will euch helfen, hier rauszukommen, für euch ist es noch nicht zu spät. Sobald sie wieder fit ist, können wir an einem Plan arbeiten.", er hält mir die Hand hin.

"Wieso?", ich ziehe die Augenbrauen zusammen und starre auf seine Hand.

"Weil ich weiß, wie ihr enden werdet, wenn ihr hier bleibt und ich will zur Abwechslung auch mal was gutes tun. Wegen mir sind schon genug Menschen gestorben und und es sollen keine weiteren dazu kommen, solange ich es verhindern kann."

Ich schaue ihm einen Moment mit halboffenem Mund in die Augen.
Dann schütte ich seine Hand.
Bis jetzt ist er unsere einzige Chance abzuhauen und solange ich auf keine bessere Idee komme, versuche ich ihm zu vertrauen.

Er nickt leicht und geht dann wieder.
Als er die Tür schließen will, kommt Colin dazu und tauscht sich kurz mit Gerith aus. Dann geht er und Colin kommt herein.

"Du warst lange genug bei ihr, komm rüber was essen.", er drückt mir die Kette in die Hand, "Mach dir das selbst dran, wenns geht.", er läuft rüber zu Ashley.

Die Tür ist offen.
Ich könnte jetzt wegrennen und sie würden mich wahrscheinlich nicht einmal kriegen. Ich könnte wieder frei sein. Weg von diesen ganzen Psychopathen.
Aber was bringt mir das, wenn sie nicht dabei ist. Ich kann sie nicht alleine lassen. Ich kann nicht ohne sie weiter machen.

Ich schaue nach unten und binde mir die Kette hinten am Hals dran.

Dann lasse ich sie hängen und schaue zu Colin, der gerade die Schubladen überprüft hat und sich nun Ashley zuwendet, die immernoch mit dem Rücken zu uns liegt.
Er greift nach ihren Haaren und hält sie hoch, mit der anderen Hand rüttelt er grob an ihrem Halsband und man hört ein leises wimmern.

"Das geht so nicht.", denkt er laut und lässt ihre Haare wieder los. Er folgt der Kette bis hinters Bett, kommt dann wieder hervor und nimmt sie ihr ab, "Setz dich, na los.", meint er in einem abwertenden Ton.

Sie richtet sich ängstlich auf und schaut mir hilfesuchend in die Augen.

Die Tür ist offen.
Sie ist frei.
Ich bin frei.
Wir könnten rennen.
Ich kann rennen.
Sie nicht.
Ich lasse es bleiben.

"Ich habe klare Anweisungen bekommen und, es tut mir leid, aber ich werde es nicht darauf ankommen lassen und dir eine Chance geben, hier irgendwie rauszukommen.", er öffnet das Halsband, um es dann wieder fester zu schließen und sofort schnappen ihre Hände zu ihrem Hals und sie atmet schwer. "Solange du noch atmest ist alles gut, kleine. Leg dich hin.", er drückt sie ins Kissen, ihre Hände immernoch um ihren Hals. Dann bindet er ihr die Kette wieder an und zieht sie stramm hinter ihr unters Bett. Wieder befestigt er sie irgendwo dran und betrachtet sie dann zufrieden.

"Besser hätte es keiner hinbekommen, was meinst du?", er dreht sich zu mir und schaut mich abwartend an. Sie starrt an die Decke und versucht sich zu beruhigen. Jetzt kann sie sich nurnoch kaum bewegen.

"Wenn du Hunger hast-", er packt ihren Arm und drückt ihr das verpackte Brötchen von Gerith in die Hand, "-iss nicht alles aufeinmal, die Malzeiten fallen für dich mager aus."

Dann wendet er sich ab und kommt wieder zu mir, "Gut gemacht, kleiner.", er nimmt grinsend die Kette in die Hand und läuft mir voraus, aus dem Wohnwagen. Draußen schließt er die Tür ab.

Die Tür ist zu.
Sie ist gefangen.
Ich bin gefangen.
Ich schlucke und spüre den Druck an meinem Hals.
Und ich weiß nicht, ob es noch schlimmer werden kann.
Ich denke einen Moment nach.
Über Jane Franck und Terrance.
Über Beißer.
Es kann immer schlimmer werden.
Man weiß es erst, wenn man das Schlimmste bereits gesehen hat.
Das Schlimmste ist bis jetzt als Beißer leben zu müssen. Nicht am Leben und auch nicht Tod. Kein Bewusstsein, nichts.
Eine geschlossene Tür kann wieder aufgehen, man kann sie aufbrechen oder umtreten. Ein Beißer hingegen braucht Hilfe von außen, um wirklich zu sterben. Und solange sie nicht sterben, sind sie in diesem Zwischenzustand gefangen, ohne begreifen zu können, was sie überhaupt auf dieser Gott verdammten Welt verloren haben.
Ein Beißer zu werden ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Schlimmer als alle psychischen und körperlichen Schmerzen.
Schlimmer als der Tod selbst.

Just stay aliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt