77

508 42 24
                                    

Ich bemühe mich, keine auffälligen Geräusche zu machen. Sollte mich jemand so sehen, ist sofort klar, dass ich abhauen will.
Wieso sonst sollte man Nachts mit zwei Taschen bepackt durch das Dorf runter zum Fluss laufen.

Es ist mitlerweile spät und die meisten Lichter in den Hütten sind erloschen.
Dazu gehört auch Brandons, an dessen Hütte ich eben vorbei bin.

Ich habe überlegt, ihm einen Brief zu hinterlassen, aber das würde alles nur schwerer für ihn machen.
Er sollte mich am besten vergessen.
Aus seinen Gedanken streichen.
So tun, als wären die letzten Monate nie passiert.
Genauso wie ich es mit Ryan getan habe.
Versucht habe.

Ich bleibe mit Abstand vor Gretchens Haus stehen.
Soweit ich es von hier erkennen kann, schläft die einzige Wache auf einem Hocker vor der Tür.
Es ist nichts außergewöhnliches, selbst Gretchen weiß, dass ihre Wachen nicht die ganze Nacht ihren Job erledigen, aber das liegt nur daran, dass die wirklich wichtigen Wachen an Außenposten positioniert sind. Sie passen auf, dass keiner das Dorf angreift und sie würden auch nie während einer Schicht einschlafen.
Es sind topdisziplinierte Leute.
Wenn irgendeine Bedrohung auftaucht, dann ist es laut genug, dass die Wache vor Gretchens Haus rechtzeitig aufwacht und sie beschützt.

Ich laufe zum Fluss runter, wo keine einzige Wache aufgestellt ist.
Es hat mich immer schon verwirrt, wieso an der schwächsten Stelle, die offenste, keine einzige Sicherheitsmaßnahme eingesetzt wird. Für Beißer mag der Fluss unüberwindbar sein, aber nicht für Menschen.

Ich schlucke.
Vielleicht sind sie außerhalb des Dorfes.
Auf Bäumen oder hinter Büschen versteckt.
So würden sie Feinde besiegen, ehe sie einen Fuß in den Fluss gesetzt haben.

Es ist keiner zu sehen.
Ryan ist nicht da.

Ich beiße mir auf die Lippe und trete ans Ufer.
Eine klare Nacht.
Der Mond spiegelt sich in dem Gewässer.
Es ist schon spät.
Ich weiß nicht, ob ich schon auf die andere Seite gehen soll.
Vielleicht ist irgendetwas passiert und-

"Keiner da, hm."

Sofort drehe ich mich um.

"Er ist nicht da, Ashley.", Brandon kommt langsam auf mich zu, "Er wird nicht kommen."

"Woher wusstest du-"

Er lacht kalt auf, "Ich habe mich bereitgestellt, heute und morgen und für jede Nacht, bis es soweit ist, die Wache für Gretchen zu übernehmen. Du bist nicht besonders unauffällig, mit zwei Rucksäcken und einem immernoch leichtem humpeln, Ashley."

Seine gläsernen Augen glänzen im Licht und seine angeschwollenen Lippen verkrampfen sich zu einem erzwungenen Lächeln.
Er versteckt es.
Er versucht es zumindest.
Aber jeder würde sehen, dass er geweint hat.

"Komm, lass uns gehen.", er streckt eine Hand nach mir aus, "der Idiot kommt doch eh nicht."

Ich schütte leicht den Kopf.

"Weißt du, erst habe ich geglaubt, du willst einfach nur abhauen, um ihn dann da draußen zu suchen. Aber wenn das wirklich so wäre, dann hättest du es anders gemacht. An einem anderen Zeitpunkt, unauffälliger. Und weil du jetzt hier bist, ist klar, dass er dir das eingeredet hat."

Ich weiß nicht, was ich antworten soll.

Er seuftzt, "Du wirst da draußen sterben, Ashley. Und glaub mir, hätte der Kerl nicht unser Dorf angegriffen, dann würde ich alles versuchen, damit er aufgenommen wird, nur, damit du nicht stirbst. Damit du hier bleibst. Wenigstens den Winter über."

"Ich weiß, dass es hart wird. Aber wir schaffen das, irgendwie.", kommt leise aus mir heraus und ich kann mir das nichteinmal selbst abkaufen. Es ist naiv, ich weiß es, Brandon weiß es und Ryan weiß es auch.

Just stay aliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt