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Ich reiße den Schrank auf und hole meine Rucksäcke heraus.
Gestresst und überfordert packe ich zuerst all meine Kleidung und dann den restlichen Kleinkram ein.
Ich hole das Messer, was ich letztens mit Helga gefunden habe, aus meinem Versteck im Schrank und stecke es in meine Jackentasche.
Es ist meine einzige Waffe.
Alles andere haben sie mir genommen.
Mit pochendem Herzen überfliege ich den Raum.
Mein Blick bleibt am Bett hängen.
Das wird mir am meisten fehlen.
Schlafen in einem richtigen Bett, mit Kissen und Decke und Matratze.
Ich öffne erneut den Schrank und hole eine dünnere Decke heraus, die ich zusammenrolle und ins Bett lege.
Sie sollen nicht direkt erfahren, dass ich weg bin.
Ich decke die Rolle zu.
Und stöhne genervt auf.
Nur ein Idiot checkt nicht sofort, dass dort kein Mensch liegt.
Trotzdem belasse ich es dabei und bleibe mitten im Raum stehen.
Mein Herz pocht und mein Kopf pulsiert.
Ich atme langsam ein und aus und versuche mich zu beruhigen.
Wenn ich irgendetwas wichtiges vergesse, gibt es kein zurück mehr.
Ich schlucke und setze mich auf den Rand des Bettes.
Ich habe nichts vergessen.
Nichts Materielles.

Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände ab und schließe die Augen.
Ich kann nicht so tun, als würden mir die Leute hier nichts bedeuten.
Es sind zwar nicht viele, aber von ihnen werde ich mich nie verabschieden können.
Und das ist das Schlimmste.
Ich bin noch nicht sehr lange hier, aber hier habe ich seit langer Zeit wieder gefühlt, wie es ist, zu leben.
Unter Menschen.
Keine Angst zu haben, zu verhungern oder getötet zu werden.
Dinge zu tun, die einem Spaß machen.
Mit einer Familie.
Helga, die verrückte Hexe, zockt jeden um seine Zigaretten ab und trotzdem hat sie was.
Gretchen. Ich mag sie zwar immernoch nicht, trotzdem weiß ich, das ihr nichts wichtiger ist, als das Wohl der Menschen hier.
Die ganzen Jungs im Versorgerteam.
Kämpfen für das Dorf. Setzen ihr Leben aufs Spiel.
Marta und Arthur, sie denken, dass ich Morgen um die gewohnt Zeit in die Bar komme und was trinke oder esse. Sie haben sich immer um mich gekümmert. Und sie bedeuten mir was. Womöglich am meisten hier, gleich nach Brandon.

Ich spüre die Hitze in meinen Kopf steigen.

Brandon. Er war anfangs nur mein Ryan Ersatz.
Aber er hat es geschafft.
Er hat mir immer geholfen, stärkte mir immer den Rücken und war einfach ein perfekter Freund hier.
Dank ihm wurde das Dorf von einem Zufluchtsort zu einem Zuhause.
Er machte das Leben hier nicht nur erträglich, sondern schön.
Und er behandelte mich nicht wie ein zerbrechliches Kind, wie Ryan es tat.
Auch nach heute hat sich daran nichts geändet. Seine Reaktion war mehr als berechtigt.
Für ihn haben zwar Gefühle eine Rolle gespielt, aber das ändert nichts.
Er ist ein unglaublicher Mensch.
Mit starkem Character und großem Selbstbewusstsein.
Ich würde ihn mitnehmen.
Einfach weil ich jetzt schon weiß, dass er mir fehlen wird.
Und ich werde darüber nicht hinweg kommen, weil er nicht Tod ist. Er lebt. Und ich habe keine Ahnung, was aus ihm wird, wenn ich gehe.
Vielleicht hat er es nach zwei Wochen verkraftet, aber wenn er schon so niederschlagen ist, nur weil er gesehen hat, wie ich zu Ryan stehe, was wird dann mit ihm sein, wenn er erfährt, dass ich wegen Ryan gegangen bin.
Ich kann ihn nicht einschätzen, nicht bei sowas. Er könnte sich deswegen umbringen. Wegen mir könnte sich Brandon das Leben nehmen.
Aber ich kann ihn nicht mitnehmen.
Sie würden nicht miteinander auskommen, niemals.

Brandon hat es geschafft.
Er ist die vierte Person, die mir ins Herz sticht. Mit einem Messer, vergiftet mit Trauer, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet.
Delron, Gerith und Ryan haben es bereits getan.
Ich balle meine Hände zu Fäusten.
Wieso hat Ryan es nicht geschickter gemacht. Er hätte auch aufgenommen werden können. Und dann würde er hier leben können und ich müsste mich von niemandem verabschieden.
Eigentlich hat es nur Nachteile, mit ihm zu gehen.
Besonders vor dem Winter.
Da könnte ich mir gleich eine Kugel in den Kopf schießen, es läuft aufs selbe hinaus.
Außer er tat es absichtlich.

Ich schlucke.

Er war so wütend auf mich, dass ich mich sogar langsam damit abgefunden habe, ihn nie wieder zu sehen.
Ich war mir sicher, dass es vorbei war. Dass ich ihn nie wieder sehe.
Und dann kommt er plötzlich aus dem Wald gerannt und will, dass ich mit ihm gehe.
Das ist dumm.
Es ist dumm, mit ihm zu gehen.

Ich stehe langsam wieder auf.

Aber es ist zu spät.
Innerlich habe ich mich schon längst entschieden.
Jetzt ist es genau umgekehrt.
Ich bin von ihm abhängig.

Ich schlucke.

Alles, was passiert ist, hat mich stärker verändert, als ich gedacht habe.
Ich gehe einfach zu ihm zurück, ohne Rücksicht auf die Zukunft zu nehmen.
Die oberste Priorität ist anscheinend nichtmehr, am Leben zu bleiben.
Viel wichtiger ist, mit wem man den Rest seiner Zeit verbringt.

"-FUCK!", schreie ich auf und schlage meine Faust gegen die Holzwand.
Mein Körper zittert und ein stechender Schmerz durchfährt meinen Arm.

Ich bin so nicht.
Ich bin so nicht und ich weiß das.
Aber ich kann nichts tun.
Ich kann ihn nicht abweisen.
Er kann mir nicht mehr egal sein.
Es ist zu spät, ich kann gegen all das nicht mehr ankämpfen.
Und ich hasse es.
Ich hasse es, weil das alles nur wegen ihm passiert ist.
Er wollte damals Jane zum Camp folgen.
Den Jungen, der mich kaputt gemacht hat, brauche ich am meisten.
Es ist absurd.

Ich lasse meine Faust von der Wand ab und senke meinen Arm.
Ich spüre das warme Blut meine Finger herunterlaufen.

Ich verharre noch einige Minuten in dem Raum, in denen ich auf den glänzenden, roten Fleck an der Wand starre, bevor ich meine Sachen nehme, die Gaslampe ausschalte und letztendlich die Tür öffne.
Die Kälte lässt mich wie immer am ganzen Körper zittern.
Es ist stockdunkel draußen.
Ich schließe die Tür, unwissend, wann ich das nächste mal ein Bett, geschweige denn wann ich wieder überhaupt in einem warmen Raum sein werde.

Just stay aliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt