Liebes Tagebuch,
als ich heute von der Schule nach Hause gekommen bin, lag Mama immer noch im Bett. Auch nach längerem Betteln wollte sie nicht aufstehen.
Es hat an der Tür geklingelt und davor stand eine Frau, die sich als Frau Schuster vorstellte. Sie hat gesagt, dass sie hier ist, um nach Mama zu sehen und gefragt, ob ich sie an die Tür holen kann.
Ich habe ihr gesagt, dass sie noch schläft und sie ist mit reingekommen. Sie hat mich gefragt, wie ich heiße, wie alt ich bin und wie lange Mama schon so viel schläft.
Über eine Woche. Fast zwei schlief sie schon so viel. Ich habe sie dann zu Mama ins Schlafzimmer gebracht und sie hat es irgendwie geschafft, sie aus dem Bett zu bekommen.
Tagebuch, heute hat Mamas Verhalten das erste Mal einen Namen bekommen.
Depression.
Ich muss mal wiederzugeben, dass ich dieses Wort nicht kannte und auch nicht wusste, was es bedeutet, aber Frau Schuster hat versucht, es mir zu erklären.
Sie hat gesagt, dass das passiert, wenn man sehr traurig ist, aber den Rest habe ich nicht verstanden.
Mama hat gesagt, das ist wie Regen im Kopf. Man will nicht nass werden und bleibt deswegen im Bett. Dort ist es warm und sicher und man kann dort warten, bis der Regen vorbei ist und sich einkuscheln. Sie hat gesagt, dass sie einen Regenschirm hat, damit sie nicht nass wird, aber der hat Löcher, deswegen wird sie manchmal trotzdem nass und wenn sie nass wird, wird sie traurig. Sie hat außerdem gesagt, dass Frau Schuster ihr dabei helfen kann, die Löcher in ihrem Schirm wieder zu flicken oder dafür sorgen kann, dass sie gar keinen Regenschirm mehr braucht. Frau Schuster hat gesagt, dass Mama Glück hat, dass sie einen Regenschirm gefunden hat, auch wenn er Löcher hat, schützt er sie ein bisschen. Nicht jeder findet einen. Sie hat gesagt, dass ich der Grund bin, warum Mama einen hat. Weil sie für mich da sein will.
Sie hat zudem gesagt, dass es sein kann, dass Mama ihren Regenschirm verliert oder er so kaputt wird, dass er sie nicht mehr schützen kann. Sie hat mir versprochen, dass sie alles tun wird, damit das nicht passiert, aber es trotzdem passieren kann. Dann wird sie die ganze Zeit nass und es kann sein, dass sie dann Tage lang nicht aufstehen kann. Es wird dann aber auch wieder Zeiten geben, wo die Sonne scheint und es ihr besser geht.
Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, was das ist. Aber es gefällt mir nicht. Ich werde alles versuchen, damit sie schnell keinen Regenschirm mehr braucht.
Liebes Tagebuch, Mama darf ihren Regenschirm niemals verlieren!
Ich habe Angst davor, wenn das passiert. Ich brauche Mama und sie braucht mich. Ich glaube, ich habe mich getäuscht. Ich bin doch noch nicht so groß, wie ich dachte. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich komme mir gerade vor wie eine Ameise unter Elefanten. Ich bin klein und machtlos.
Frau Schuster hat sich dann mit Mama unterhalten und dieses Mal bin ich wirklich auf mein Zimmer gegangen, so wie sie es wollte. Ich werde von nun an machen, was Mama sagt. Im Moment bin ich froh, wenn sie überhaupt etwas sagt und ich will nicht, dass sie böse auf mich ist oder sich Sorgen um mich machen muss. Sie scheint im Moment andere Sorgen zu haben.
Frau Schuster hat einen Zettel an den Kühlschrank gehängt und hat gesagt, dass ich diese Nummer anrufen kann, wenn es Mama mal schlechter gehen sollte, wenn sie mal einen Tag gar nicht aufstehen will und dann ist sie gegangen.
Gute Nacht, liebes Tagebuch, ich gehe jetzt schlafen und hoffe, dass es Mama bald wieder besser geht. Das hoffe ich so sehr...
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Wenn ich diese Zeilen wieder lese, merke ich noch heute meine Verzweiflung. Ich hatte damals das Gefühl, den einzigen Menschen zu verlieren, der mich liebte und das alles nur wegen eines Mannes, den sie mal geliebt hatte. Gleichzeitig bin ich auch stolz auf sie, dass sie sich damals Hilfe geholt hat. Es ist nicht schlimm, wenn man auch mal einen dieser Tage hat, wo man einen Regenschirm braucht, die hat jeder. Es ist nur wichtig, jemanden zu haben, der einem dabei hilft, seinen Regenschirm festzuhalten.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Teen Fiction-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...