28. Mai. 2011

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Liebes Tagebuch,

gestern war ich bei Karla und habe mich lange mit ihr über Eleni und Luana unterhalten. Ich muss zugeben, dass Karla seit Eleni bei uns ist wirklich etwas zu kurz gekommen ist, besonders weil Luana es für besser hielt, wenn keine Fremden das Haus betraten.

Karla meinte, ich solle einfach abwarten, bis Luana auf mich zukommt, und mich nicht über das aufregen, was passiert ist. Ändern könnte ich es sowieso nicht mehr. Da hat sie recht, Tagebuch, aber es ist trotzdem nicht fair.

Heute kam Luana tatsächlich auf mich zu und entschuldigte sich. Manchmal frage ich mich, wann die Menschen verlernt haben, wie man sich richtig entschuldigt. Das Wort „Entschuldigung" ist kein Radiergummi; es löscht das Problem nicht einfach weg. Es tut immer noch weh, und das Problem bleibt bestehen. Man kann einem Menschen nicht einfach um Entschuldigung bitten und erwarten, dass damit alles wieder gut ist. Man kann um Vergebung bitten – das ist es, was man tun kann. Man kann darum bitten, dass der andere darüber hinwegsieht. Deswegen verstehe ich nicht, warum Menschen ihre Kinder dazu erziehen, immer sofort „Entschuldigung" zu sagen, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Das Kind, dem die Schaufel aus dem Sandkasten auf den Kopf geschlagen wurde, hat immer noch Schmerzen. Es ist nicht einfach zu entschuldigen, weil der Schmerz bleibt und das Verhalten des anderen nicht richtig war. Aber man kann vergeben. Das ist etwas, das die heutige Gesellschaft oft verlernt hat. Viele Menschen denken, dass das Wort „Entschuldigung" alle Probleme löst. Aber das tut es nicht, und genau das führt zu so vielen Streitigkeiten und Missverständnissen. Das Wort „Entschuldigung" vermittelt den Glauben, dass alles wieder gut ist, aber das ist nicht der Fall.

Ich habe Luana vergeben. Sie hat auch viel Geduld mit mir gehabt, als es mir nicht gut ging, aber ich hoffe sehr, dass sie solche Fehler nicht wiederholt und dass Eleni bald wieder mit mir spricht.

Luana hat gesagt, ich solle mal in die Küche kommen, weil sie mir etwas sagen müsse. Was wollte sie mir denn sagen?

Als ich in die Küche ging, stand da Sophie. „Ist etwas mit Eleni?", fragte ich sofort.

„Nein, ich bin wegen dir hier", antwortete sie.

Warum sollte sie wegen mir hier sein? Wegen meiner wenigen Gespräche mit Luana? Ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Ich wusste nicht mehr, wann Sophie das letzte Mal wegen MIR hier war. Das konnte doch nichts Gutes bedeuten.

„Marlene, deiner Mama geht es wieder gut. Du kannst wieder zu ihr", sagte Sophie.

Hast du das gehört, Tagebuch? Ich soll wieder zu Mama. Was ist, wenn sie wieder einen Rückfall bekommt? Und warum jetzt, wo Eleni mich braucht?

„Freust du dich denn gar nicht?", fragte Sophie.

„Doch, natürlich, aber ich...", stammelte ich.

„Sehr schön. Pack deine Sachen zusammen, ich hole dich morgen früh ab", sagte sie.

Tagebuch, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Soll ich mich freuen oder fürchten? Acht Monate sind vergangen, seit ich das letzte Mal bei Mama war. Seit Eleni hier ist, habe ich sie nicht mehr besucht. Ich hatte andere Dinge im Kopf. Eleni hat mir gut getan; sie hat mir geholfen, den Kopf frei von den Gedanken darüber zu bekommen, wer hier eigentlich was falsch gemacht hat. Und jetzt soll ich zurück zu Mama.

Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich überall anecke, egal ob hier oder bei Mama. Im Moment passe ich nirgends richtig rein...

Marlenes Gedanken zu ihrem Tagebucheintrag:

Als ich diesen Tagebucheintrag nach all den Jahren noch einmal lese, fühle ich mich zurückversetzt in diese verwirrenden und angsterfüllten Zeiten. Ich erinnere mich genau an das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Unsicherheit, das mich damals begleitet hat. Heute, als Erwachsene, sehe ich vieles aus einer anderen Perspektive.

Es berührt mich tief, zu lesen, wie verzweifelt ich war, zwischen den Anforderungen meiner eigenen Heilung und der Verantwortung für Eleni hin- und hergerissen zu sein. Diese Einträge zeigen mir, wie wichtig es war, Geduld mit mir selbst zu haben, als ich versuchte, die richtige Balance zwischen Selbstfürsorge und dem Bedürfnis, für andere da zu sein, zu finden. Ich erkenne jetzt, dass die Schmerzen und die Unsicherheit, die ich damals empfand, Teil des Weges waren, der mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin.

Es schmerzt mich immer noch, über das Verhalten der Menschen zu lesen, denen ich vertraut habe, insbesondere Luana. Es war hart, zu akzeptieren, dass meine Enttäuschung und mein Misstrauen nicht unbegründet waren. Aber ich verstehe jetzt, dass auch sie nur Menschen waren, die versuchten, ihren eigenen Weg durch diese schwierige Zeit zu finden.

Gleichzeitig bin ich stolz auf die Stärke, die ich damals aufgebracht habe. Es war eine Zeit, in der ich viel über mich selbst lernen musste, über das Vergeben und das Verständnis, was es wirklich bedeutet, anderen und sich selbst zu vergeben. Diese Lektionen haben mir geholfen, heute gesünder und reifer zu sein. Wenn ich auf diesen Teil meiner Vergangenheit zurückblicke, sehe ich nicht nur die Wunden, sondern auch die Fortschritte, die ich gemacht habe, und die Lektionen, die ich daraus gezogen habe. Es ist ein Stück meines Lebens, das mir zeigt, wie weit ich gekommen bin und wie wichtig es ist, sich selbst und anderen immer wieder eine Chance zu geben.

ich kann mich noch genau daran erinnern, wie überrumpelt ich war, als Sophie mir die Nachricht brachte, dass ich zu Mama zurück könnte. Auch heute empfinde ich es als sehr überstürzt, einem Kind zu sagen: „Morgen ziehst du um, pack deine Sachen!" Dieses Gefühl von plötzlicher Unvorbereitetheit hatte ich damals, weil ich als Kind nicht die gesamten Prozesse mitbekam, die im Hintergrund abliefen, während ich in der Pflegefamilie untergebracht war.

In Wirklichkeit war es so, dass Mama über Monate hinweg von Psychologen betreut wurde. Sie hatte es geschafft, sich selbst zu versorgen und ein eigenständiges Leben zu führen, und das ohne eine Spur von Depressionen. Für jedes Kind, das außerhalb der Familie aufwächst – sei es in einer Pflegefamilie, in stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen oder in Inobhutnahmeeinrichtungen – finden regelmäßig sogenannte Hilfeplangespräche statt. Bei diesen Gesprächen kommen der zuständige Jugendamtsmitarbeiter (in meinem Fall Sophie), die Sorgeberechtigten (also Mama) und die vorübergehenden oder dauerhaften Bezugspersonen (wie Luana und Toni) zusammen. Ab einem Alter von etwa zwölf Jahren wird das Kind selbst in diese Gespräche einbezogen, um seine Meinung und Bedürfnisse zu vertreten.

In der Regel finden solche Gespräche alle sechs Monate statt. Hier werden die Anliegen aller Beteiligten besprochen, die Entwicklung des Kindes erörtert und die Standpunkte der verschiedenen Personen berücksichtigt. Wenn das Kind unter zwölf Jahre alt ist, übernimmt die aktuelle Betreuungsperson die Vertretung des Standpunkts des Kindes.

Das letzte Hilfeplangespräch hatte nur wenige Tage vor der Nachricht stattgefunden. Während dieses Gesprächs hatte Mama den Wunsch geäußert, wieder bei mir zu sein, und Sophie erhielt daraufhin den Auftrag zu überprüfen, ob eine Rückführung möglich wäre. Da Mama alle Bedingungen für eine Rückführung erfüllte, stand dem nichts mehr im Wege. Von all dem hatte ich als Kind jedoch nichts mitbekommen, was mich so überrumpelte.

Solche Dinge geschehen häufig schnell, weil das Jugendamt stets darauf bedacht ist, Familien zu erhalten. Je länger ein Kind von seiner Familie getrennt ist, desto schwieriger wird es, sich wieder einzugewöhnen. Dieses Verständnis konnte ich als Kind noch nicht haben, und deshalb fühlte ich mich damals so abrupt und unerwartet in die neue Situation geworfen.



Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt