Mittwoch, 24.Dezember.2008

80 17 9
                                    

Liebes Tagebuch,

heute ist Weihnachten.

Eigentlich ist das ein Tag, auf den ich mich immer gefreut habe. Noch letztes Jahr habe ich nur an die Geschenke gedacht. Heute merke ich, wie sehr ich die Gesellschaft von Mama genossen habe.

Es ist jetzt 19: 36 und noch immer schläft sie.

Ich bereue so einiges in letzter Zeit, Tagebuch. Ich denke viel nach und bin froh, dass ich diese Gedanken mit dir teilen kann.

Wieso habe ich die Zeit mit Mama nie mehr wahrgenommen, als sie noch gesund war?

Bevor die Depressionen kamen.

Bevor die Wolken aufzogen und es bei Mama zu regnen begann.

Bevor sie einen Regenschirm brauchte, den sie dann verloren hat.

Bevor Papa zu einem Mörder wurde.

Und bevor Felix in unser Leben gekommen ist.

Ich habe die Zeit mit Mama immer als selbstverständlich wahrgenommen, das ist sie nicht. Wieso habe ich das nicht früher begriffen?

Ich habe Mama versprochen, nie mit jemanden über sie zu reden. Aber ich bin froh, dass ich dir davon erzählen kann. Ich bin froh, dass ich meine Sorgen mit dir teilen kann. Du bist im Moment die Einzige, die mir zuhört und der ich meine Gedanken anvertrauen kann und darf.

Ich bin froh, dass es dich gibt.

Danke Tagebuch...

Es ist Abend am Heiligabend. Ich bin allein.

Felix ist mit ein paar anderen betrunkenen Männern weg und hat heute früh schon das Haus verlassen. Wenigstens etwas Gutes.

Manchmal hasse ich es, dass ich noch so klein bin.

Am liebsten würde ich einfach eine andere Tür einbauen, damit, der nicht mehr reinkommt und Mama endlich keinen Grund mehr hat, um traurig zu sein, aber so einfach ist es nicht.

Ich weiß genau, dass er morgen früh wieder auf dem Sofa liegen wird und ich kann nichts dagegen tun.

Ich sitze gerade bei Mama im Bett und schreibe dir.

Ich will wach bleiben und bei ihr sein, wenn sie aufwacht.

Ich habe angefangen aufzuschreiben, wann Mama wach wird und wann sie eine neue Tablette nimmt. Dafür habe ich die gesamten Weihnachtsferien bei Mama im Schlafzimmer verbracht.

Vielleicht sollte ich öfters hier sein. Ins Schlafzimmer kommt Felix nur selten. So lässt er mich wenigstens in Ruhe.

Ich habe durch meine Beobachtung herausgefunden, dass Mama mehrmals am Tag wach ist. Oft nimmt sie mich dabei gar nicht wahr, sondern nimmt nur eine Tablette und schläft dann weiter. Manchmal starrt sie auch eine lange Zeit einfach an die Decke, ohne etwas zu sagen.

Ich habe herausgefunden, dass Mama nachtaktiv ist. Das hatten wir gerade in der Schule, das sind Lebewesen, die in der Dämmerung und in der Nacht wach sind und tagsüber schlafen. Nachts steht Mama auf. Isst etwas von dem, was ich gemacht habe und verbringt eine kurze Zeit im Bad.

Manchmal, aber eher selten schaut sie kurz in mein Zimmer, aber meistens legt sie sich gleich wieder hin.

Das Medikament, was Mama nimmt, heißt Lorazepam. Manchmal nimmt sie zwei Tabletten am Tag, manchmal drei. Morgens, wenn ich eigentlich noch schlafe, nimmt sie die Erste. Das ist dann immer der Zeitpunkt, wo sie mir manchmal Frühstück macht. Zwischen 12 und 15 Uhr nimmt sie eine zweite. Manchmal nimmt sie danach noch eine oder sie schläft bis zum nächsten Morgen durch.

Eigentlich ist ein Tagebuch dazu da hineinzuschreiben, wie man sich fühlt.

Ich weiß nicht, wie ich mich fühle und das ist ein komisches Gefühl. Ich weiß nicht, ob du das kennst. Wahrscheinlich nicht, du bist ein Haufen Papier in einem Umschlag, aber ich weiß nicht, was ich fühle. Ich bin nicht wütend, traurig oder fröhlich. Ich fühle nichts und das macht mir Angst.

Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, dass das Leben an mir vorbeirauscht. Ein Tag vergeht schneller als der andere.

Als ich fünf war, habe ich mir auf dem Spielplatz mal in den Arm geschnitten. Jemand hatte eine kaputte Flasche im Sand eingegraben und ich habe mich daran geschnitten.

Der Arzt im Krankenhaus hat mir eine Spritze gegeben, die meinen Arm betäubt hat, sodass er die Wunde nähen konnte, ohne dass es mir wehgetan hat.

So fühle ich mich. Wie betäubt.

Irgendwie bin ich nicht richtig da, nur mit dem Unterschied, dass jeder Augenblick so entsetzlich wehtut.

Ich spüre den Schmerz nicht wirklich, aber er ist da.

Er nimmt mir die Kraft.

Er nimmt mir den Mut.

Er nimmt mir die Hoffnung.

Ich bin ins Wohnzimmer gegangen und hab den Fernseher angeschaltet.

Es ist das erste Mal, seit Felix bei uns wohnt, dass ich Fernsehen sah. Sonst blockierte Felix immer das Wohnzimmer und ich war nicht bereit, nur wegen des Fernsehers ihm zu nahezukommen.

Ich musste erst mal ein paar Flaschen vom Tisch wegstellen, damit ich überhaupt etwas sehen konnte.

Es lief drei Haselnüsse für Aschenbrödel.

Irgendwie fühle ich mich auch gerade so wie sie, Tagebuch. Sie hat kein einfaches Leben und eine böse Stiefmutter, die ihr das Leben schwer macht, und ich habe einen bösen Stiefvater und eine böse Gewitterwolke, die einfach nicht aus dem Kopf meiner Mutter verschwinden will.

Das Schicksal meint es gut mit Aschenbrödel. Sie heiratet einen Prinzen, wird reich, muss sich nie wieder um irgendetwas Sorgen machen und bekommt ein neues Leben. Tagebuch, das ist eine der Sachen, in denen ich und Aschenbrödel uns unterscheiden. Ich will kein neues Leben. Ich will mein Altes zurück. Das Leben, welches es vor den Depressionen und Felix gab ...

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt