Dienstag, 20. Oktober. 2009

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Liebes Tagebuch,

Ich glaube, ich bin ein schlechter Mensch.

Ich glaube, ich habe nicht genug gekämpft.

Nicht genug für Mama gekämpft.

Tagebuch ist es schlimm, dass ich mich hier beginne wohlzufühlen?

Es gefällt mir hier wirklich sehr.

Ich fühle hier etwas, das ich lange nicht mehr gefühlt habe.

Geborgenheit

Liebe

Vertrauen

Und Sicherheit

All das, was ich die letzten zwei Jahre vermisst habe.

Ich weiß nicht, ob ich mich hier wohlfühlen darf. Falle ich damit nicht Mama in den Rücken?

Ich will sie nicht enttäuschen, Tagebuch...

Ich fühle mich endlich wieder wohl.

Mein Leben beginnt wieder normal zu werden.

Der Tornado steht still und ich kann ihn langsam verlassen.

Und trotzdem Tagebuch habe ich Zweifel.

Ist es richtig, dass ich glücklich bin hier?

Darf ich glücklich sein, wenn Mama es vielleicht nicht ist?

Tagebuch es macht mich fertig nicht zu wissen wie es Mama geht.

Ich weiß nicht, ob ich glücklich sein darf, wenn es Mama nicht ist.

Falle ich so Mama in den Rücken?

Habe ich sie so aufgegeben, weil ich aufgehört habe, immer nur an sie zu denken?

Könnte Mama irgendwann denken, dass ich sie nicht mehr liebe? Obwohl es keinem Menschen gibt, den ich mehr liebe...

Ist es falsch, dass ich mich hier wohlfühle?

Gerade als ich das geschrieben habe, ist Luana in mein Zimmer gekommen

Sie hat auf mein Tagebuch gesehen und hat mich fast schon schockiert angesehen.

Sie hat gesagt das es nicht falsch ist das ich mich hier wohlfühle, sondern das das toll ist und Mama sich sicher freut, wenn es mir gut geht und ich glücklich bin.

Sie hat gesagt, dass ich es verdient habe glücklich zu sein nach dem, was ich in der letzten Zeit durchmachen musste.

Luana hat gesagt das ich wieder lernen muss auch mal an mich zu denken und nicht immer so viele Zweifel zu haben.

Aber wie soll ich keine Zweifel mehr haben, wenn alles falsch sein könnte, was ich tue?

Tagebuch ich weiß nicht was richtig ist.

Ich weiß nicht, was wichtig ist.

Bis jetzt war es für mich nur wichtig für Mama zu kämpfen, für sie da zu sein und dafür zu sorgen, dass niemand in ihre Nähe kommt und das war auch das einzig richtige.

Aber was war jetzt richtig und wichtig?

Ich weiß es nicht, Tagebuch.

Luana hat gesagt das ich wieder lernen muss wie man Kind ist. Ich bin eine kleine Erwachsene geworden. Sie hat gesagt andere in meinem Alter wissen nicht mal wie ein Herd angeht und ich habe seit zwei Jahren gekocht.

Sie hat gesagt das es dauert bis ich wieder richtig zurechtkommen werde, es aber gerade deshalb wichtig ist das ich wieder einen geregelten Tagesablauf habe.

Sie hat außerdem gesagt, dass es wichtig für mich ist, dass ich mir etwas suche, womit ich meine Freizeit verbringen kann. Ein Hobby.

Sie hat gesagt, dass ich zum Beispiel weiter mit Nala zum Kickboxen gehen könnte.

Sie hat gesagt, dass mir das doch Spaß gemacht hat und ich so den nötigen Ausgleich bekommen könnte, den ich brauche.

Tagebuch ich weiß, dass es sich komisch anhört, aber ich fühle mich so leer seit ich nicht mehr bei Mama bin.

Luana hat gesagt, dass das ganz normal ist. Sie hat gesagt das dieser vieler Stress, den ich in letzter Zeit hatte, jetzt weg ist und das ist diese leere die ich jetzt spüre. Sie hat gesagt das ich mich bald wieder besser fühlen werde und nicht mehr so unruhig bin und dann auch diese Gedanken, ob ich es Mama gerade recht mache aufhören.

„Deine Mama muss jetzt für sich selbst kämpfen. Du hast lange für sie gekämpft und sie auf ihrem Weg begleitet, aber den restlichen Weg den muss sie allein schaffen. Verstehst du das, Marlene? Die Ärzte in der Klinik helfen deiner Mutter, die Regenwolken loszuwerden, aber das geht nur, wenn deine Mama mitmacht. Wenn sie selbst will das sie verschwinden. Du kannst ihr gerade nicht helfen, das muss sie jetzt ohne dich schaffen", hatte Luana gesagt.

Tagebuch, es ist so unendlich schwer nichts mehr für sie tun zu können...

Ich weiß, dass ich die ganze Zeit eigentlich nichts für sie tun konnte, aber sie war bei mir und ich konnte sie sehen.

Ich konnte ihren Atem spüren, wenn ich mich zu ihr ins Bett legte.

Sie war da. Ich wusste das sie lebt und das sie kämpft, aber genau das weiß ich jetzt nicht.

Ich weiß nicht, ob sie aufgegeben hat...

Tagebuch, das wäre so verdammt unfair.

Ich habe die letzten zwei Jahre nur für sie gekämpft.

Ich hoffe das weiß sie, denn jetzt ist sie an der Reihe und muss für mich kämpfen.

Sie muss dieses Rennen beenden, was wir gemeinsam begonnen haben und ich kann nichts tun, als im Ziel auf sie zu warten und oft zuzujubeln, wenn sie auf der Zielgeraden ist.

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt