Sonntag, 19. Juli. 2009

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Liebes Tagebuch,

heute hat Mama Geburtstag.

Einen Geburtstag, den ich allein für sie feiern muss, denn auch heute steht sie nicht auf. Mamas letzter guter Tag liegt jetzt schon so lange zurück, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann er war.

Es ist mitten in den Sommerferien.

Weißt du, dass jetzt schon über ein Jahr vergangen ist, seit Mama krank geworden ist und es kommt mir so vor, als könnte ich mich an jeden einzelnen Tag erinnern und es würde nie enden.

Wir hatten mal ein schönes Leben, aber das ist vorbei.

Ich habe nur noch Erinnerungen an dieses Leben, die Realität ist etwas anders.

Die Realität ist ein Leben, das ich vorher nicht kannte und das ich mir so auch nie vorgestellt hätte.

Seitdem es Mama so schlecht geht, habe ich viel Zeit zum Nachdenken.

Ist es nicht unglaublich, wie schnell der Mensch sich an etwas gewöhnt und abhängig wird?

Hier in Deutschland wachsen die meisten Kinder im Glauben auf, dass es Armut und ein schlechtes Leben allgemein in Deutschland nicht gibt, außer man gibt es freiwillig auf.

Früher habe ich darüber nie nachgedacht, aber nun tue ich das oft. Es ist nicht alles gut, auch in Deutschland nicht.

Ich fange an, die Menschen mit anderen Augen zu sehen.

Ich sehe nicht mehr den gruseligen alten Mann, der immer an der Brücke steht und vor dem alle Angst haben, weil man sagt, er sei verrückt geworden.

Nein. Ich habe mich nach der Ausgabe der Zeugnisse einfach neben ihn gesetzt. Irgendwie habe ich mich wohl bei ihm gefühlt, auch wenn ich sonst immer so große Angst vor ihm hatte.

Er hat mich nur angesehen und hat seinen Arm über meine Schulter gelegt.

Er hat gesagt, dass er das Gefühl hat, dass ich das gerade brauche. Jemanden, der einfach da ist, ohne etwas sagen zu müssen. Er hat gesagt, dass ich ihm erzählen kann, was los ist, wenn ich möchte, es aber nicht muss. Er hat gesagt, dass es oft leichter ist, mit Fremden zu reden, als mit Leuten, die man gut kennt und denen man vertraut.

Tagebuch, er hat recht, aber warum ist das so? Warum könnte ich mit dem Mann von der Brücke eher über das reden, was zu Hause passierte als zum Beispiel mit Frau Krause, obwohl sie mir schon so oft ihre Hilfe angeboten hat?

Ich glaube, dass es eine Eigenart des Menschen ist, dass er immer helfen möchte, selbst aber nicht zur Last fallen will und das ist es, was viele Menschen am Ende kaputtmacht. Menschen glauben, wenn sie jemanden etwas anvertrauen, Schwäche zuzugeben und gewissermaßen stimmt das auch, aber ein guter Mensch nutzt die Schwäche von anderen nicht aus, sondern versucht ihm dabei zu helfen, darüber hinwegzukommen. Und es gibt verdammt viele gute Menschen auf dieser Erde und trotzdem gelang man immer an die Bösen. Es ist, wie mit der Nadel im Heuhaufen. Nur dass man die Nadel jedes Mal findet, obwohl man lieber einen Grashalm haben möchte...

Und ich glaube, dahinter liegt auch der Grund, dass man so schlecht mit Leuten reden kann, die einem sehr vertraut sind. Man glaubt, dass man seine liebsten nur belasten würde und will nicht, dass sie sich Sorgen machen. Dabei macht man sich doch erst recht Sorgen, wenn man merkt, dass jemand etwas hat, aber nicht darüber reden will, wenn jemand erzählt, was los ist man doch eher erleichtert. Manchmal verstehe ich Menschen nicht.

Der Mann hat gesagt, dass er über die Jahre gelernt hat, nicht mehr auf das äußere von Menschen zu achten. Er sagte, dass er glaubt, dass ich das auch kann, weil ich die erste Person seit Jahren bin, die sich einfach nur zu ihm gesetzt hat, obwohl alle immer Angst vor ihm haben. Er hat auch gesagt, dass er sehen kann, dass auf mir eine Last liegt, die ich in meinem Alter nicht mehr lange allein tragen kann.

Er hat mich gefragt, ob ich Hilfe brauche. Ob er mir helfen kann.

Nein, das kann er nicht...

Er hat gesagt, dass es nicht schlimm ist, nach Hilfe zu fragen. Dass man sich nichts sehnlicher wünscht, aber man Angst vor den Konsequenzen hat und er hat recht. Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn ich jemandem erzähle, dass Mama krank ist und ich will es auch nicht herausfinden.

Ich weiß, dass es komisch klingt. Ich schreibe dir fast täglich, dass ich Hilfe brauche, aber ich habe gleichzeitig auch Angst, welche zu bekommen. Es ist diese Ungewissheit, was passieren wird, die mich fertigmacht.

Er hat mir erzählt, dass er mal ein schönes Leben hatte. Eine tolle Frau und eine Tochter. Er hat gesagt, dass sich seine Tochter vor neun Jahren im Alter von 16 das Leben genommen hat. Sie ist von dieser Brücke gesprungen. Seine Ehe ging in die Brüche. Er hat gesagt, deswegen, ist er hier. Er hat gesagt, dass er nicht genug Zeit für sie gehabt hat und als sie noch lebte nicht genug auf sie aufgepasst hat, deswegen passt er jetzt auf sie auf. Damit sie nicht allein ist und damit er trauern kann. Er hat gesagt, dass bestimmte Situationen einen verändern können, dass es den meisten Menschen aber zu gut geht, um, das zu verstehen. Das liegt daran das der Mensch ein egoistisches Wesen ist, welches nur das Eigene im Blick hat und zu viel urteilt, statt zuzuhören.

Paul heißt der Mann. Paul hat gesagt, wir Kinder, haben zwei Gaben, die Erwachsene verlieren. Das sind bedingungslose Liebe und das Fehlen von Vorurteilen.

Paul hat gesagt das, ich ein toller Mensch bin und gut auf diese beiden gaben und mein Herz aufpassen soll und ich zu ihm kommen kann, wenn ich mich einsam fühle.

Tagebuch, heute geht es mir seit Wochen mal wieder richtig gut.

Ich glaube ich, weiß jetzt was, Hoffnung ist...

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt