Mittwoch, 31. Dezember. 2008

85 18 12
                                    

Liebes Tagebuch,

heute ist Silvester und einer der besten Tage, seitdem es Mama schlecht geht. Heute war einer ihrer guten Tage.

Einer der Tage an denen alles so war wie früher.

Es waren diese Tage, an denen sie ihre Tabletten in die Ecke klatschte und fröhlich aus dem Bett sprang.

Ich habe heute viel mit Mama geredet.

Wir haben zusammen gekocht und mein Zimmer aufgeräumt.

Mama hat mir gesagt, was es noch bedeutet, Depressionen zu haben. Es bedeutet, dass einem selbst die kleinsten Dinge schwerfallen. Wie einfach nur etwas trinken oder aufstehen. Sie hat gesagt, dass sie an diesen Tagen nicht in der Lage ist, irgendwas zu tun.

An ihren schwarzen Tagen, wie sie es nannte.

An den Tagen, wo der Himmel in ihrem Kopf so schwarz ist, dass sie weder eine Wolke noch die Sonne irgendwo sehen kann. Leider hat Mama viele von diesen schwarzen Tagen.

Tage wie heute sind eine Ausnahme und das macht mich traurig.

Tagebuch, ich habe Mama gefragt, was es mit diesen Tabletten auf sich hat. Und dass ich nicht verstehe. Wie Tabletten, die sie zum Schlafen brachten, ihr dabei helfen sollten, endlich wieder wach zu werden.

Sie hatte gesagt, dass es einem nicht gut geht, wenn es ständig schwarze Wolken gibt und man keinen Regenschirm mehr hat. Einem ist schlecht, man fühlt sich einfach nicht wohl. Tief im Inneren weiß man, dass eigentlich alles in Ordnung ist. Sie hat gesagt, dass sie sich am Anfang immer versucht hat einzureden, dass es ihr gut geht, aber es geht ihr nicht gut. Und je mehr man darüber nachdenkt, warum es einem nicht gut geht, umso mehr Vorwürfe und Zweifel kommen auf und damit auch immer mehr Wolken und Regen.

„Es ist ein Teufelskreis, Marlene. Ich weiß nicht, wann ich da wieder rauskomme. Deswegen nehme ich diese Tabletten. Um mir keine Gedanken mehr zu machen und einfach nur zu schlafen. Damit ich irgendwann mal wieder einen freien Kopf habe. Es tut mir leid, meine Kleine, dass du das durchmachen musst".

„Es tut mir leid, dass ich dir das antue. Es tut mir leid, dass ich nicht normal sein kann. Dass ich nicht für dich da sein kann. Es tut mir leid", hat sie heiser gesagt. Ihre Stimme, ihre Worte. Brannten sich in mein Gedächtnis und spielen sich immer wieder in mir ab.

„Marlene. Depressionen heißt keine Kraft mehr zu haben. Keine Kraft mehr zum Leben. Keine Kraft mehr zum Aufstehen. Du bist im Moment das Einzige, was mir Kraft gibt, überhaupt weiterzumachen. Verstehst du das? Ich darf dich nicht verlieren", hat sie gesagt.

Ich habe ihr gesagt, dass sie mich nicht verliert. Dass ich für sie da bin, aber dass ich auch langsam nicht mehr kann. Das mir das alles zu viel wird.

Tagebuch, ich habe Mama heute, das erste Mal davon erzählt, was in der Schule los ist, da ich überhaupt nicht mehr mit den anderen zurechtkomme. Dass ich manchmal gar nicht mehr hingehe oder mitten im Unterricht einfach gehe, weil ich es nicht mehr aushalte. Mama hat gesagt, das ist okay. Ich darf gehen, wenn ich nicht bleiben will. Sie hat gesagt, dass wir zusammen neu anfangen, sobald sie so weit ist und dass ich kämpfen soll. Das ich stark sein soll. Das ich stark sein muss für uns beide.

Stark sein ...

Tagebuch, ich weiß nicht, wie lang ich das noch kann. Ich kann im Moment kaum für mich selbst stark sein. Wie soll ich es dann für uns beide sein?

Mama hat mich dann gefragt, was ich mir für das neue Jahr wünsche.

Ich habe etwas gesagt, was sie zum Weinen gebracht hat.

„Ich wünsche mir, dass dieser Tag heute nicht der einzige bleibt. Dass du ab morgen jeden Tag aufstehst und du dich nur noch nachts hinlegst."

Ich weiß, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird und dass es Mama traurig macht, dass ich es mir wünsche, aber es ist mein größter Wunsch.

Ich will nie wieder ein Geschenk haben. Nie wieder Spielsachen. Ich will meine Mama zurück, und zwar jetzt.

----------

Ich sah aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne und irgendwie passte meine Stimmung gerade gar nicht zu diesem wunderschönen Sommertag.

Ich weiß, dass ich Mama nicht böse sein kann. Nicht böse darauf, dass sie krank war, aber manchmal verstehe ich ihre Entscheidungen von damals nicht. Wenn ich diese Zeilen lese, weiß ich, dass ich mit meinen Kräften wirklich am Ende war. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als einfach aufzuwachen und alles wäre wieder normal. Mama hat es als selbstverständlich genommen, dass ich für sie kämpfe. Aber das war es nicht. Ich musste das kämpfen lernen und auch meine Energie ging mal zur Neige.

Ich wünschte, ich hätte schon damals meine Gedanken nicht nur mit meinem Tagebuch, sondern auch mit Mama geteilt.

Stark sein. Man kann nicht immer nur stark sein. Man muss auch schwach sein dürfen und weinen dürfen, wenn einem danach ist. Das wichtigste ist, dass man einen Kampf nie allein bestreiten muss. Genau das wollte Mama von mir. Aber ich war noch zu jung, um allein für und beide zu kämpfen, es hat mich kaputtgemacht.

Es ist nicht schlimm, schwach zu sein. Man braucht es. Man muss schwach sein, um dann stark sein zu können. Wenn es kein schwach geben würde, würde es auch kein stark geben. Also sucht Personen, die euch helfen, wenn ihr schwach seid und die für euch stark sind, aber vergesst nicht auch für sie da zu sein, wenn sie eine Schulter zum Anlehnen brauchen und jemanden, der ihren Regenschirm festhält.

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt