21. Januar. 2010

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Liebes Tagebuch,

Heute hatten wir Wandertag in der Schule, und es kam mir vor, als hätten wir eine Ewigkeit laufen müssen. Unsere Klassenlehrerin hielt es für eine gute Idee, unser Allgemeinwissen zu erweitern, und hat uns in ein ziemlich langweiliges Museum geschleppt. Wir sind eineinhalb Stunden dorthin gelaufen.

Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Wandern. Mama und ich haben das früher oft gemacht, aber die meisten aus meiner Klasse hatten schon nach einer halben Stunde genug davon. Warum denken Erwachsene immer, dass Kinder Museen spannend finden? Es ist meist stinklangweilig, und die Einzigen, die wirklich etwas daraus lernen, sind meistens die Lehrer. Ich verstehe ja, dass es wichtig ist, über Dinge aus der Vergangenheit Bescheid zu wissen, aber warum sollte ich mich mit dem beschäftigen, was vor meiner Zeit war, wenn ich nicht mal begreife, was gerade jetzt passiert? Vielleicht können die Lehrer das langweilige Zeug den Erwachsenen überlassen und uns Kinder mit interessanteren Dingen beschäftigen.

Auf dem Weg zum Museum hat mich Frau Schröder abgefangen und wollte mit mir reden. Sie hat gesagt, dass ich stolz auf mich sein kann, weil ich trotz der aktuellen Situation so gute Leistungen erbringe. Mein Notenschnitt hat sich verbessert, und sie findet es toll, dass ich immer mehr aus mir herauskomme und anderen helfe, auch wenn es mir selbst nicht immer so gut geht. Sie hat recht, Tagebuch. Ich helfe gerne anderen, weil ich nicht ertragen kann, wenn jemand traurig ist. Ich spüre sofort, wenn jemand etwas bedrückt, auch wenn die Person versucht, es hinter einem Lächeln zu verbergen, so wie ich es lange Zeit selbst gemacht habe.

Den Rest des Weges bin ich bei Karla gelaufen. Karla ist ein Mädchen aus meiner Klasse, und sie wird mir immer wichtiger. Ich glaube, ich kann sie wirklich meine Freundin nennen. Karla ist drei Monate älter als ich, hat lockige dunkle Haare und eine große Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, die einem immer sofort ins Auge fällt, wenn sie lacht. Aber sie schämt sich nicht dafür, denn sie kann durch die Zahnlücke ganz laut pfeifen – so laut wie niemand sonst.

Karla ist auch sehr musikalisch. Seit sie vier Jahre alt ist, spielt sie Gitarre und seit sie sieben ist, Querflöte. Was noch besonders ist: Sie ist die Einzige, die genau weiß, was mit Mama los ist. Sie versteht, dass ich mir Sorgen mache, weil ich seit dem abgebrochenen Telefonat nichts mehr von Mama gehört habe. Karla sagt mir immer, dass irgendwann alles gut wird, und das gibt mir Kraft.

Karla hat mich gefragt, ob sie heute nach der Schule bei mir bleiben kann. Ich hoffe sehr, dass das klappt...


Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt