1. Januar. 2010

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Liebes Tagebuch,

Es ist Neujahr, und die Nacht war geprägt von einem atemberaubenden Feuerwerk. Die Raketen zischen und knallen durch den Himmel, als ob sie die dunklen Wolken vertreiben wollten. Ursprünglich sollten sie böse Geister vertreiben, die Unglück bringen, aber heute scheinen die meisten Menschen sie einfach aus Tradition zu zünden. Der Himmel sieht aus wie eine funkelnde, glitzernde Decke aus Staub und Licht, die sich über uns ausbreitet. Vielleicht ist das der Grund, warum Mama eine Gewitterwolke hat. Die Raketen schießen diese Wolken in die Luft, und irgendwie scheint es, als ob jemand sie dann auf sich nimmt.

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Es mag so klingen, als hätte ich in meinen Tagebüchern nur über Unglück geschrieben, aber das ist nicht ganz richtig. Wenn ich zurückblicke, hatte ich bei Luanas Familie auch viele schöne Zeiten, besonders in den Momenten, als alles so zerbrechlich erschien. Sie haben mir die Sicherheit gegeben, die ich dringend gebraucht habe. Trotz all der Sorgen und der Verwirrung war es eine Zeit des Trostes.

Ich war damals ein tiefsinniger Denker. Ich suchte immer nach Gründen, warum alles so geworden ist, wie es geworden ist. Ich wusste, dass ich nichts tun konnte, um Mama zu helfen, außer abzuwarten. Aber es war nicht leicht, tatenlos zu sein. Also suchte ich nach Gründen und fand sie in allem, doch letztlich war es nur eine Strategie, um meine eigenen Gefühle zu verdrängen. Ich fühlte mich oft zwischen zwei Welten gefangen. Wenn mich in der Schule jemand nach meiner Familie fragte, wusste ich nie, ob ich von Mama oder von Luana und ihrer Familie erzählen sollte.

Es war verwirrend, nicht zu wissen, ob ich noch Marlene König oder schon Marlene Wolf war. Ich fühlte mich sehr wohl bei Luana und ihrer Familie, aber gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, dass ich mit jedem Lächeln, das ich Luana schenkte, Mama verriet.

Liv half mir immer sehr. Auch wenn ich sie in meinen Tagebüchern selten erwähnte, waren unsere Gespräche für mich unglaublich wichtig. Sie sagte mir immer, dass ich beides sein könne – sowohl Marlene König als auch Marlene Wolf. Sie nannte mich einen "Königswolf", und das half mir, mich selbst zu akzeptieren.

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Heute Morgen, nach einer kurzen Nacht, habe ich zusammen mit Nala den Müll aufgeräumt, den die Raketen hinterlassen haben. Nala und ich sind gleich nach Mitternacht ins Bett gegangen, während die anderen noch länger wach waren. Wegen des Lärms in der Küche konnte ich in meinem Zimmer nicht schlafen, also habe ich bei Nala geschlafen. Es war schön, ihre Nähe zu spüren und in dieser besonderen Nacht nicht allein zu sein.

Wir sind danach ein wenig spazieren gegangen. Nala zeigte mir einige Ecken der Umgebung, die ich bisher nie richtig erkundet hatte. Während wir gingen, sagte sie mir, dass sie mich lieb hat und froh ist, dass ich bei ihnen bin. Sie meinte, dass sie jetzt nicht mehr die einzige kleine Person in der Familie ist und dass Luana ihre Liebe nun auch auf jemand anderen richten kann. Es tat gut, diese Worte zu hören. Nala hat mich daran erinnert, dass ich in dieser Familie einen Platz habe und dass ich akzeptiert und geliebt werde.





Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt