Liebes Tagebuch,
ich liege im Krankenhaus und langweile mich. Du fragst dich jetzt sicher, warum ich hier bin. Ich erkläre es dir.
Eleni geht ja seit ein paar Tagen wieder mit zur Schule. Wohl fühlt sie sich dort auf jeden Fall nicht, das weiß ich, Tagebuch, aber Luana hat gesagt, dass sie es jetzt nicht mehr länger hinauszögern können. Auf jeden Fall bin ich zusammen mit Eleni von der Schule nach Hause gelaufen. Sie hält noch immer Abstand und hat bis heute nicht gesprochen, aber es ist besser geworden, Tagebuch.
Jemand hat Elenis Namen gerufen, und wir haben uns beide umgedreht. Ein Mann stand dort, und ich habe sofort gemerkt, wie Eleni nervös und angespannt wurde. Auch auf mich hat er keinen angenehmen Eindruck gemacht. Irgendwie wirkte er bedrohlich. Ich bin bei fremden Männern noch immer misstrauisch. Auch wenn es lange nicht so schlimm ist wie bei Eleni, fühle ich mich in ihrer Gegenwart nicht wohl.
Er ist auf uns zugekommen, Tagebuch.
„Marlene, hau ab!", das war der Satz, mit dem Eleni ihr Schweigen gebrochen hat. Das war das erste Mal, dass ich ihre süße Stimme hörte, und sie hat gezittert. Sie hatte so eine Angst. Ich habe nicht einmal daran gedacht zu gehen. Ich würde Eleni nicht allein lassen. Ich würde für sie da sein, wenn sie meine Hilfe braucht.
Er hat angefangen, Eleni anzuschreien, und ehe ich etwas tun konnte, schlug er auf sie ein. Sie hat keinen Ton von sich gegeben, Tagebuch. Sie hat nur gefleht, dass er aufhören soll. Sie hat nicht geschrien...
Ich musste etwas tun und habe ihm von hinten in die Kniekehle getreten. Dadurch ist sein Bein weggeknickt, aber er ist schnell wieder aufgestanden und hat sich zu mir umgedreht. Er hat mich mit voller Wucht gestoßen, und ich bin mit dem Kopf gegen die Hauswand geknallt. Mir wurde schwindelig, und er hat mich wieder hochgezogen und seine Hand an meinen Hals gelegt.
„Lass Marlene in Ruhe, sie hat damit nichts zu tun", hatte Eleni gerufen.
Ich konnte sie nicht sehen. Meine Sicht war verschwommen, und durch seine starke Hand an meinem Hals bekam ich schlecht Luft. „Marlene also. Ich sag dir mal was, Marlene: MISCH DICH NICHT EIN!", hatte der Mann gebrüllt und dann von mir abgelassen. Ich musste mich setzen, Tagebuch, um erst einmal wieder Luft zu bekommen. Mein Kopf tat weh, und als ich ihn anfasste, hatte ich Blut an der Hand. Ich hatte mich verletzt.
Er hat Eleni gegen den Zaun gedrängt. „Du bist schwach, Eleni. Du bist ein schwaches, kleines, nichtsnutziges Mädchen. Aus dir wird nie etwas werden. Du bist eine Schande für alle", hatte der Mann Eleni angeschrien und dabei immer wieder nach ihr getreten. Ich konnte nichts tun, Tagebuch. Mir ging es gerade selbst nicht so gut.
„Du bist eine Schande für jeden, für deine Familie. Vielleicht wäre es besser, wenn du Holly folgen würdest. Du bist schuld an ihrem Tod. Du machst Fehler, du kannst nichts richtig machen. Du bist eine Schande", hatte er geschrien und wurde dabei immer lauter. Ich habe gesehen, wie Eleni einfach nur Angst hatte.
Irgendwie hat mir das wieder Kraft gegeben, und ich konnte wieder aufstehen. Was ich genau gemacht habe, weiß ich nicht mehr, aber ich habe angefangen, auf ihn loszugehen. Seit ich bei Luana lebe, gehe ich zum Kickboxen und war heute das erste Mal froh, immer hart trainiert zu haben. Irgendwie konnte ich ihn in Schach halten. Ich weiß nicht wie. Ich habe in diesem Moment einfach nur funktioniert. Ich wollte Eleni beschützen. Das ist etwas, das ich mir immer von Mama gewünscht hatte. Dass sie mich vor Felix beschützt, aber sie hat es nie getan...
Irgendwann waren dann die Polizei und ein Krankenwagen da. Die haben uns mit ins Krankenhaus genommen. Eleni war so geschockt, dass sie sich gegen nichts gewehrt hat. Nicht einmal, als eine Ärztin, eine fremde Frau, sie untersucht hat. Es geht uns beiden so weit gut, Tagebuch. Ich habe eine Platzwunde, die genäht werden musste, und muss jetzt hier rumgammeln, weil ich eine Gehirnerschütterung habe und sie mich beobachten wollten.
Tagebuch, ich schreibe dir morgen wieder. Ich muss selbst erst einmal verstehen, was hier eigentlich gerade passiert ist...
Auch jetzt, wo ich diese Zeilen wieder lese, kann ich mich noch genau an diese Situation erinnern. Es waren so viele Eindrücke auf einmal, dass ich sie gar nicht sofort verarbeiten konnte, aber ich weiß noch heute, dass ich nie so stolz auf mich war wie in diesem Moment. Ich hatte Eleni beschützt und dabei selbst einstecken müssen, aber ich konnte sie beschützen. Ich habe mich irgendwie als Held gefühlt.
Wie der Held, den ich mir immer gewünscht hätte, wenn Felix schlechte Laune hatte. Wie der Held, der in meinen Augen den Namen „Mama" tragen sollte, der aber nie kam. Irgendwann war mir egal geworden, wer da zur Hilfe kam, aber ich wollte, dass jemand kam. Ich habe mir so oft vorgestellt, dass ein Superheld durchs Fenster hineinkommt und Felix zeigt, wo der Hammer hängt. Und an diesem Tag war ich Elenis Held, und auch wenn ich selbst Schmerzen von dieser Aktion hatte, habe ich mich noch nie so gut gefühlt.
Das ist es, was Freundschaft ausmacht und Vertrauen aufbaut: Für den anderen da zu sein, wenn er einen am dringendsten braucht, und nicht wegzuschauen, wenn es schwierig wird. Denn leider gibt es viel zu viele Menschen, die nur deine Freunde sind, wenn es dir gut geht, und die verschwinden, sobald es dir schlecht geht. In diesen Zeiten merkt man, wer seine wahren Freunde sind: nämlich die, die auch da sind, wenn's mal ungemütlich wird.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Teen Fiction-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...