Mittwoch, 30. September. 2009

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Liebes Tagebuch,

ich habe Angst. Ich sitze in einem fremden Haus, in einem fremden Raum, mit einer fremden Frau und weine und schreie und bin fertig.

Du fragst dich sicher, wie es dazu gekommen ist, und ich will es dir erklären.

Seit dem Vorfall bin ich nicht in der Schule gewesen, also schon zwei Tage nicht mehr.

Tagebuch, ich hatte schon den ganzen Tag das Gefühl, dass heute etwas passieren würde und am liebsten wäre ich einfach abgehauen, aber so einfach ist das nicht. Ich wollte Mama nicht allein lassen. Sonst wäre ich schon längst hier weg.

Ich bin nicht mehr in die Schule gegangen, weil auch Liv und die anderen die Verletzung gesehen hatten, und ich wusste, dass zumindest Liv mich abfangen würde und dann Fragen stellen würde. Fragen, auf die es keine Antwort gab.

Es war kurz nach dem Mittagessen, als es geklingelt hat. Ich habe so getan, als hätte ich sie nicht gehört und bin in mein Zimmer gegangen, aber es klingelte so lange weiter, bis ich doch zur Tür ging.

Ich habe sie ein kleines Stück aufgemacht. Wir haben an der Tür eine Türkette, damit die Tür nur ein bisschen aufging.

Ich habe durch die Tür geschaut und Polizei gesehen und eine blonde Frau, welche in die Knie ging und mich ansah.

Sie hat mich gefragt, ob ich Marlene bin und gesagt, dass sie Sophie heißt und vom Jugendamt ist. Sie hat gesagt, dass ich sie hereinlassen soll.

Ich habe ihr gesagt, dass ich keine Fremden hereinlassen darf und da ist eine Polizistin nach vorne getreten und hat gesagt, dass Mama recht hat, man die Polizei aber immer hereinlassen muss. Ich wollte die Tür wieder schließen, aber sie hat ihren Fuß dazwischen gestellt und noch mal gesagt, dass ich sie bitte hereinlassen soll.

Sophie hat gesagt, dass sie nur nachschauen wollen, ob alles in Ordnung ist und ich habe gesagt, dass es mir gut geht. Die Polizistin hat die Kette dann selbst durch den Türspalt aufgemacht und sie sind einfach hereingekommen.

Ich hatte Angst, Tagebuch.

Sie haben gefragt, wo meine Mutter ist und ich hab nur aufs Schlafzimmer gezeigt. Sie haben dann versucht, Mama zu wecken, und ich habe gesagt, dass es jetzt dauern wird, bis sie wieder wach wird, weil sie gerade erst wach war. Aber natürlich nur wach, um eine Tablette zu nehmen.

Sie haben mich gefragt, ob Mama krank ist.

Ob wir hier allein wohnen.

Und wo mein Vater ist.

„Sie hat Depressionen, Felix wohnt noch hier und mein Vater ist im Gefängnis", hatte ich gesagt.

Sophie hat gefragt, wer Felix ist und warum Papa im Gefängnis ist.

Ich hab ihr gesagt, dass das der Freund von Mama ist und dass Papa jemanden getötet hat.

Es hat nicht lange gedauert und eine Ärztin ist aufgetaucht, die sich um Mama kümmern sollte. Sie hat mir auch ein paar Fragen gestellt.

Sie hat mich gefragt, wie alt ich bin.

Neun, ich bin jetzt neun Jahre alt Tagebuch. Seit zwei Jahren schreibe ich dir nahezu jedem Tag. Dir und deinen Vorgängern, denn du bist schon mein drittes Tagebuch. Aber das ist nicht schlimm, ich habe euch alle gleich lieb. Sie hat mich noch mal gefragt, ob ich weiß, was Mama hat und ich habe wieder mit Depressionen geantwortet.

Sie hat gefragt, ob ich weiß, was das bedeutet und ich habe gesagt.

"Mama hat gesagt, es ist wie Regen im Inneren. Wenn es draußen stürmt und regnet, will man nicht nach draußen. Im Bett ist man sicher, man kann sich einkuscheln und warten, bis das Gewitter weggezogen ist. Irgendwann scheint die Sonne und man kann aufstehen, weil keine Gefahr mehr besteht, nass zu werden, zumindest, solange bis wieder Wolken aufziehen."

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt