3. Mai. 2011

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Liebes Tagebuch,

wir sind wieder zuhause. Gestern hat uns Liv aus dem Krankenhaus abgeholt. Sie ist jetzt 18 und darf allein Autofahren, und sie ist wahnsinnig stolz darauf.

Heute ist Linus' Geburtstag. Er ist jetzt 16. Allerdings ist er nicht da; er hat darauf bestanden, seinen Geburtstag mit seinen Freunden zu verbringen und sie sind irgendwo unterwegs. Ehrlich gesagt ist mir das auch gerade lieber als der ganze Trubel, Tagebuch.

Vertrauen ist wie ein Stück Papier. Ist es einmal zerknüllt, wird es nie wieder perfekt sein. Perfekt wird es bei Eleni nicht mehr sein, aber sie gibt sich Mühe, die Risse im Papier zu kleben. Seit dem Vorfall ist das Eis gebrochen. Eleni ist jetzt fast ständig bei mir. Es geht ihr besser, Tagebuch. Noch immer ist sie den anderen gegenüber misstrauisch, aber ich werde langsam versuchen, sie an die anderen heranzuführen. Man merkt, dass Eleni die Nähe gefunden hat, die sie gesucht hat.

Gestern war noch die Polizei da und wollte, dass ich ihnen genau erzähle, was passiert ist. Sie wollten auch mit Eleni sprechen, aber sie hat nichts gesagt und sich wieder in ihrem Zimmer versteckt. Heute hat sie den ganzen Tag auf meinem Bett gesessen und mich angesehen. Viel gesprochen hat sie nicht, aber sie hat etwas gesagt. „Alle Menschen sind Engel mit einem Flügel. Wenn wir uns umarmen, können wir zusammen fliegen", hat sie gesagt und mich umarmt. Das war ihre Art, mir zu sagen, dass sie mir vertraut, Tagebuch.

Alle Menschen haben einen Flügel. Ein Mensch ist nicht dazu gemacht, allein zu sein, denn wir können nur zusammen fliegen, Tagebuch. Eleni hat diesen Spruch auf ihr Tagebuch geschrieben und etwas auf das leere Cover gemalt: eine Wolke, die einen Stern trägt. Der Stern sieht aus wie ein Haus, und vor dem Haus steht jemand und sieht hinab. Das muss Holly sein, Elenis Schwester.

Ich glaube, die Geschichte hat ihr Kraft gegeben. Eleni ist wie ich ein Vieldenker. Wir denken zu viel nach und sprechen das, was wir denken, zu selten aus. Aber das macht Menschen wie Eleni auch so geheimnisvoll und zugleich so angreifbar.

Tagebuch, ich bin mir sicher, dass Eleni sich gut entwickeln wird, und ich werde auf sie aufpassen, so wie es ihre Schwester vorher getan hat. Ich habe mir schon immer eine kleine Schwester gewünscht, aber ich bin auch froh, dass Mama kein zweites Kind bekommen hat. Dann wäre ich damals mit einem Baby und einer kranken Mutter allein gewesen, zusammen mit Felix, und das kann man wirklich niemandem wünschen. Auch wenn es sich jetzt komisch anhört, ich hätte nicht gewusst, wie ich mit einem Geschwisterkind in dieser Situation hätte umgehen sollen. Ich bin ja selbst kaum zurechtgekommen, wie hätte das mit noch einem Kind gehen sollen?

Ich glaube, ich kann mich ganz glücklich schätzen, dass es nicht so weit gekommen ist und ich dafür jetzt Eleni als kleine Schwester dazu gewonnen habe.

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt