Liebes Tagebuch,
Langsam beginnt wieder ein normaler Alltag einzukehren. Eleni ist seit dem Vorfall wieder offener geworden. Linus hat mir in der Schule erzählt, dass sie zumindest Nala und Liv ein wenig an sich heranlässt. Es sind noch genau 17 Tage bis zu den Sommerferien. Luana war auch noch einmal bei uns, um mit mir zu sprechen. Sie hat gesagt, dass sie Eleni erklärt hat, dass ich nicht wusste, dass sie und Paulina zuhören, und dass ich nichts dafür kann.
Ich fand das gut, Tagebuch. Auch Erwachsene haben nicht immer recht und müssen ihre Fehler eingestehen. Leider tun das die wenigsten. Ich verstehe nicht, warum es Erwachsenen so schwerfällt, ihre Fehler zuzugeben. Gerade in der Schule merkt man das häufig. Wenn ich eine Lehrerin darauf hinweise, dass ein Wort falsch geschrieben ist, kommt oft die Antwort: „Das steht da. Die Buchstaben sind nur ein bisschen verwischt", anstatt einfach zu sagen: „Danke, Marlene, dass du so aufmerksam bist. Du hast recht, da fehlt ein Buchstabe." Dann würde sie das Wort korrigieren und es wäre gut. Aber ich habe das Gefühl, dass Erwachsene vor Kindern immer recht haben müssen, egal wie offensichtlich es ist, dass sie gerade etwas falsch machen.
Ich verstehe das nicht, Tagebuch. Schon im Kindergarten wird jedem Kind beigebracht, immer gerecht zu sein, seine Fehler einzugestehen und für sie geradezustehen. Streit soll geklärt und um Vergebung soll gebeten werden. Warum fällt es den Personen, die es einem beibringen, so schwer, diese Dinge selbst umzusetzen? Manchmal habe ich das Gefühl, dass Erwachsene uns Kinder nicht für voll nehmen. Vielleicht muss ich erst 18 Jahre alt werden, um ernst genommen zu werden. Dabei ist das Schwachsinn, Tagebuch. Auch wenn ich erst 10 bin, kann ich durchaus recht haben.
Kinder sind die Zukunft dieses Planeten, und doch hört ihnen niemand richtig zu. Dann wundern sich alle, wenn ein Kind mal überschnappt, weil ihm überhaupt nicht zugehört wird! Und die Kinder, die nicht reden wollen? Die werden dazu gezwungen oder gedrängt. Luana hat gesagt, dass sie so eine Aktion nicht wieder machen wird. Sie hat erklärt, dass sie nur helfen möchte und möchte, dass Eleni alles schnell hinter sich lassen kann. Aber Eleni kann es nur verarbeiten, wenn sie darüber redet. Richtig! Aber es gibt noch etwas Entscheidendes, das dazugehört: Sie muss bereit dazu sein. Mit Zwang erreicht man gar nichts!
Mit jedem Eintrag, den ich in meinem Tagebuch lese, merke ich, dass ich schon sehr viel reifer war als andere Kinder in diesem Alter. Ich habe mir Gedanken über Dinge gemacht, die mir mit 10 eigentlich gar nicht wichtig sein sollten. Aber es ist nun mal so, dass die frühen Jahre der Kindheit einen prägen. Ich musste schnell reifer werden, um mich um mich selbst kümmern zu können. Das führt zwar dazu, dass man selbstständiger wird, aber es hat auch Nachteile. Oft können Kinder, die schnell erwachsen werden mussten, mit anderen Kindern in ihrem Alter wenig anfangen. Ihnen fehlt die Fantasie oder die Denkweise der Gleichaltrigen, und so fühlen sie sich oft zu älteren Personen hingezogen. Das hat auch psychische Auswirkungen. Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, überspringen oft die Phase des Teenagers. Das typische pubertäre Verhalten fällt häufig komplett weg. Dies führt dazu, dass sie mit dem Verhalten von Gleichaltrigen oft nichts anfangen können und sich von ihnen abkapseln. Diese Menschen überspringen auch die Phase, in der ein Teenager sich ausprobiert. Oft haben diese Menschen erst zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr ihre erste feste Beziehung, weil ihnen ein vertrautes und liebevolles Umfeld wichtig ist und sie sich Zeit lassen, den richtigen Partner zu finden. Diese Beziehungen halten dafür aber oft sehr lange, und oft sind das die Menschen, die alle bewundern, weil sie noch immer mit ihrer ersten großen Liebe zusammen sind.
Ich habe damals so einiges nicht verstanden, was Luana gemacht hat. Heute weiß ich, dass sie immer nur das Beste für mich und Eleni wollte. Aber ich glaube, es fiel ihr schwer, zu verstehen, wie wir uns fühlten. Als Ärztin sah sie alles nur aus medizinischer Sicht und wusste, dass es psychisch belastend ist, wenn man zu lange alles mit sich selbst ausmacht. Aber ein Kind hat seine eigenen Strategien, um Dinge zu verarbeiten. Ein Kind verarbeitet schmerzhafte Erfahrungen durch Spiel. Wenn ein Kind zum Beispiel eine Spritze bekommen hat und es wehgetan hat, wird es beim nächsten Spiel seinem Teddy eine Spritze geben und so dieses Erlebnis verarbeiten. Kinder können das noch; das ist der Grund, warum sie sehr viel psychischen Stress aushalten können. Erwachsene machen das nicht mehr. Sie versuchen alles, nur noch mit sich selbst auszumachen, und für Erwachsene ist es wichtig, darüber zu sprechen. Kinder müssen auch darüber reden, was ihnen durch den Kopf geht, aber erst, wenn sie es nicht mehr allein schaffen. Das passiert allerdings selten. In der Phase, als ich das zweite Mal von Mama wegmusste, brauchte ich die Hilfe der Erwachsenen. Eleni benötigte das nicht, zumindest nicht sofort. Eleni vertraute sich selbst jemandem an – auch wenn ich das war und ich nur vier Jahre älter war als sie, reichte ihr das, um erstmal damit abzuschließen. Sie brauchte nicht die psychologische Hilfe eines Erwachsenen, sondern jemanden, der ihr Fürsorge, Zuneigung und Sicherheit schenkte. Das ist es, was sie brauchte, um zu heilen. Das hat Luana zum Glück später verstanden.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Fiksi Remaja-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...