Liebes Tagebuch,
Die Zeit vergeht, und ein neues Jahr hat begonnen. Hoffentlich wird es besser als das vergangene. Viel schlimmer kann es ja jetzt nicht mehr werden – das hoffe ich zumindest.
Mama ist nach Weihnachten aus der Klinik entlassen worden, und heute werde ich sie zum ersten Mal wiedersehen. Luana hält es für wichtig, dass ich in Kontakt mit ihr bleibe, hat aber angeboten, mich zu diesem Treffen zu begleiten. Ich bin froh darüber, denn ich weiß nicht, ob ich das alleine schaffen könnte. Mama wird weiterhin regelmäßig von Psychologen betreut und soll vorerst allein wohnen, um sich auf sich selbst konzentrieren zu können.
Ich hoffe, dass es ihr dann endlich besser geht, Tagebuch...
Luana und ich sind zu Mama gefahren. Sie erzählte mir, dass das Haus umgeräumt wurde und alles, was sie an früher erinnern würde, wie Bilder, erstmal weg ist. Vielleicht hat das ja etwas Gutes. Die Fahrt war nicht lang, aber ich hatte gemischte Gefühle. Als ich klingelte, war ich voller Nervosität. Eigentlich sollte ich vor Freude platzen, Mama wiederzusehen, aber stattdessen fühlte ich mich ängstlich. Das gefiel mir nicht.
Mama hat die Tür geöffnet und uns hereingelassen. Sie hat sich gefreut, Tagebuch, und sie hat gelächelt. Wir setzten uns zusammen ins Wohnzimmer, und Mama fragte, wie es mir geht, was ich so mache und wie es in der Schule läuft. Ich hatte irgendwie auf eine Entschuldigung gehofft, Tagebuch. Ich weiß, dass sie nichts für die Krankheit kann, aber es hätte gutgetan, wenn sie das anerkannt hätte.
Mama sprach die ganze Zeit nur über sich selbst: wie schwer es für sie war, wie sie gelitten hat, dass niemand verstehen kann, wie es sich anfühlt. Das hat mich erschöpft. Es war immer nur schwer für sie. Was ist mit mir? Diese Frage habe ich ihr schließlich gestellt. Sie sah mich an, als wüsste sie nicht, was ich meine.
„Ich habe immer an dich gedacht", sagte sie.
Das meinte ich nicht, Tagebuch. „Hast du mal darüber nachgedacht, wie es mir dabei ging?" fragte ich.
Mama begann wieder zu erzählen, wie sie die Situation erlebt hatte, dass es ohne Tabletten nicht mehr ging und so weiter. Nein, Tagebuch, sie hat nicht darüber nachgedacht. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schrie sie an, ob sie jemals daran gedacht habe, dass ich bei ihrem ersten Rückfall erst sieben Jahre alt war. Dass ich mich mit Felix herumgeschlagen habe, in der Schule fertiggemacht wurde und alles ertragen habe, nur weil sie mich darum gebeten hatte, nichts zu sagen. Warum musste sie mit Tabletten die Realität ausschalten und mich mit allem allein lassen? Ich hatte mich nie hilfloser gefühlt als in dieser Zeit. Ich war wütend, Tagebuch. Ich wollte sie nicht so anschreien, aber ich musste es einfach sagen.
Mama fing an, Luana zu beschuldigen, dass sie mir das alles eingeredet hätte. Auch wenn ich ihre Wut verstand, blieb Luana ruhig. Sie erklärte, dass sie nicht zwischen uns stehen wolle und sich nicht in unsere Beziehung einmischen wolle. Sie sagte, sie wolle Mama nicht ersetzen und das auch nie versucht habe. Sie sei lediglich eine Bezugsperson für mich, bis Mama es wieder sein könne. Sie wolle mir Mama nicht wegnehmen, sondern sich nur um mich kümmern, bis Mama dazu in der Lage sei.
Ich ließ Mama meine alten Tagebücher da. Ich bat sie, sie zu lesen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht versteht, wie schwer es auch für mich war und mein Verhalten heute nachvollziehen kann.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Teen Fiction-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...