Liebes Tagebuch,
Das Jahr neigt sich schon wieder dem Ende zu. Bald ist Weihnachten. Ist es nicht verrückt, wie schnell die Zeit vergeht? Es fühlt sich fast so an, als wäre immer nur Weihnachten. Kaum hat man die Geschenke am Heiligen Abend ausgepackt, ist schon wieder Dezember.
Heute ist etwas Merkwürdiges passiert. Es hat geklingelt, und als ich die Tür öffnete, stand Sophie davor. Normalerweise kommt sie immer, um zu sehen, wie es mir geht und ob ich zurechtkomme. Diesmal fragte sie jedoch gleich nach Luana. Ich habe sie zu Luana in die Küche gebracht und bin dann auf mein Zimmer gegangen. Ich wollte nicht mehr lauschen, Tagebuch. Das hat mir bisher immer nur Ärger eingebracht, und ich hatte mir fest vorgenommen, es dieses Mal nicht zu tun.
Trotzdem habe ich später etwas mitbekommen. Eigentlich wollte ich nur in die Küche gehen und mir etwas zu trinken holen. Luana und Sophie saßen noch immer dort, und als ich meinen Namen hörte, blieb ich kurz vor der Tür stehen.
„Ich halte es für keine gute Idee, es ihr zu sagen. Es geht ihr gerade wirklich gut. Ich weiß nicht, ob sie einen weiteren Rückschlag verkraften würde", hörte ich Luana sagen.
„Es geht nicht darum, ob wir es ihr sagen, sondern wie wir es ihr sagen. Das Kind hat das Recht auf Mutter und Vater. Wir müssen es ihr sogar sagen", antwortete Sophie.
Ich bin dann wortlos in die Küche gegangen und habe mir ein Glas Wasser genommen. Die beiden schauten mich an, aber ich bin einfach wieder zur Tür gegangen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter – Luana stand hinter mir. Sie fragte mich, was ich gehört hätte.
„Es ist mir egal", sagte ich. „Wenn ihr so geheimnisvoll redet, hat es bestimmt etwas mit Mama zu tun, und vielleicht will ich es gar nicht mehr wissen."
Die letzte Zeit, die ich mit Mama verbracht habe, läuft immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Immer wenn ich an sie denke, fühle ich mich unwohl. Es ist einfach nicht gut, im Moment an Mama zu denken.
Luana hat gesagt, ich solle mich zu ihnen setzen. Sie erzählte mir, dass sich die Klinik gemeldet hat und es Mama wieder besser geht. So schnell, Tagebuch? Es waren nicht mal drei Monate. Sophie meinte, ich könnte Mama wieder besuchen, wenn ich das möchte, und dass sie die Klinik vielleicht bald wieder verlassen darf.
Ich möchte sie nicht besuchen. Tagebuch, bin ich eine schlechte Tochter, weil ich sie gerade nicht sehen möchte? Ich liebe Mama, aber im Moment will ich sie einfach nicht sehen. Das mag komisch klingen, aber die Angst, dass Mama wieder einen Rückschlag erleiden könnte, und ich dann allein mit ihr bin, ist größer als die Freude, sie wiederzusehen.
Im Moment bin ich glücklich, Tagebuch, und tief in meinem Inneren weiß ich, dass es mir bei Luana besser geht als bei Mama – zumindest solange sie keine Rückfälle mehr bekommt. Die Mama von früher ist nur noch eine blasse Erinnerung. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass Mama zeigt, dass sie es wirklich will, dass ich wiederkomme, und dass sie den Alltag auch ohne mich meistern kann.
Luana hat gesagt, dass ich nicht zu ihr muss, wenn ich das nicht will. Die Klinik hält es sowieso für besser, wenn Mama noch ein paar Monate allein in unserem Haus lebt und sich auf sich konzentrieren kann, bevor ich wiederkomme. Sie hat gesagt, dass ich sie in dieser Zeit besuchen kann, aber immer entweder sie oder jemand, der Mama betreut, mit dabei sein wird, um zu verhindern, dass es ihr noch schlechter geht.
Tagebuch, ich fühle mich irgendwie immer von Mama verletzt. Ich bin mir sicher, dass ich sie besuchen werde, aber vielleicht nutze ich diese Gelegenheit, um ihr zu zeigen, dass es mir genauso wehgetan hat wie ihr.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Teen Fiction-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...