26. August. 2011

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Liebes Tagebuch,

Ich bin sauer auf Luana, aber dieses Mal wirklich. Ich habe mich wieder ganz gut eingelebt, und die Schule hat wieder angefangen. Heute ist Freitag, und ich habe Luana gefragt, ob ich am Wochenende Mama besuchen kann. Sophie hat zwar gesagt, dass Mama das Sorgerecht für mich nicht mehr bekommen wird, aber gegen einen Besuch spricht ja trotzdem nichts.

Luana hat gesagt, dass sie das nicht entscheiden kann. Sie lügt, Tagebuch. Natürlich kann sie das entscheiden.

„Wieso willst du nicht, dass ich Mama sehen kann?", habe ich wütend gefragt.

„So ist das nicht, Marlene. Es liegt nicht an mir. Ich muss mich mit Paulina in Verbindung setzen und fragen, ob deine Mama bereit dazu ist. Außerdem ist es gerade besser für dich, wenn du sie erstmal nicht siehst", hat sie geantwortet.

„Warum bist du so unfair? Dir war es die ganze Zeit so wichtig, dass ich zu ihr gehe, obwohl ich es nicht wollte, und jetzt, wo ich es will, verbietest du es mir!", habe ich gesagt.

„Marlene, in ein paar Wochen kannst du sie wieder besuchen. Aber ihr braucht jetzt beide erstmal Zeit und Abstand, damit ihr wieder zur Ruhe kommen könnt."

„Ich will Mama aber jetzt sehen. Das kannst du mir nicht verbieten!", habe ich gebrüllt. Ich weiß nicht genau warum, aber heute Morgen war die Sehnsucht nach Mama so groß, dass ich das Gefühl hatte, noch nie so weit von ihr entfernt zu sein wie jetzt. Seitdem ich weg von ihr war, hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Aber ich wollte mit ihr reden. Ich wollte endlich verstehen, warum sie so gehandelt hatte. Auch wenn ich nicht weiß, ob ich es je verstehen werde.

„Doch, das kann ich", hatte Luana geantwortet.

„Du bist gemein!", habe ich geschrien und bin zur Haustür gerannt.

„Marlene, bleib hier!"

„Lass mich in Ruhe!", habe ich gerufen und bin nach draußen gerannt. Ich wollte einfach nur weg.

„Marlene, warte!", habe ich die Stimme von Eleni gehört und bin kurz stehen geblieben.

„Bitte geh nicht weg. Lass mich nicht allein hier. Nimm mich mit", hatte sie gesagt.

„Mach dir keine Sorgen. Ich geh nur zu Liv, okay? Aber sag es Luana nicht, ich will erstmal meine Ruhe haben", habe ich gesagt und bin weitergerannt.

Als ich endlich bei Livs Wohnung angekommen war, hatte ich geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht. Ich habe mich mit meinem Rucksack in den Flur gesetzt. Ich hatte nur schnell eine Flasche Wasser und dich, Tagebuch, eingesteckt. Ich wollte Luana gerade nicht sehen! Es ist einfach nur unfair, Tagebuch. Sie darf mir nicht verbieten, Mama zu sehen ... Oder darf sie das doch? Ich weiß es nicht, Tagebuch, aber ich will jetzt nicht weiter darüber nachdenken.

Ich bin wach geworden, als ich Schritte gehört habe, Tagebuch. Ich muss eingeschlafen sein, und dann stand Jonah auch schon vor mir.

„Marlene, was machst du hier?", fragte er, während er die Tür aufschloss. Er trug Einkäufe, da war er also.

„Ich will zu Liv", hatte ich gesagt und war hinter ihm in die Wohnung gegangen.

„Liv ist in der Uni, und soweit ich weiß, solltest du eigentlich auch gerade in der Schule sein und nicht in unserem Flur", hatte er streng gesagt.

Das Telefon hat geklingelt, und Jonah ist drangegangen.

„Ja, mach dir keine Sorgen, sie ist hier. Sie saß gerade im Flur, als ich vom Einkaufen wiedergekommen bin. Sie will mit Liv reden. Das weiß ich nicht, sie hat noch nichts gesagt. Mach dir keine Sorgen, ich hab ein Auge auf sie. Bis später." Das waren die Wortfetzen, die ich von dem Telefonat mitbekommen habe. Es ist komisch, wenn man nur die Hälfte mitbekommt, weil ich ja die andere Stimme nicht hören konnte.

„Das war gerade Luana. Sie sagt, du bist abgehauen, stimmt das?", hatte er gefragt, aber ich habe geschwiegen.

„Sie macht sich Sorgen. Du kannst nicht einfach weglaufen. Sie wusste nicht, wo du bist. Wenn Eleni nichts gesagt hätte, wüsste sie es auch immer noch nicht", hatte er gesagt. Eleni hat also geplappert, war ja eigentlich klar.

„Marlene, willst du nicht mal was sagen?", hat er gesagt.

„Ich will mit Liv reden", hatte ich erneut gesagt.

„Die kommt erst heute Abend wieder. Ich bin eigentlich kein Fan davon, wenn jemand die Schule schwänzt, aber in die Schule bekomme ich dich jetzt sowieso nicht. Und das ist mir immer noch lieber, als wenn wir dich dann, wie Eleni, zwei Tage suchen müssen. Aber das ist eine Ausnahme, verstanden?"

„Ja, Papa", hatte ich genervt gesagt. Ich kam mit Jonah mittlerweile eigentlich relativ gut klar, aber er hatte lange kämpfen müssen, um mein Vertrauen zu bekommen, und fair war ich sicher nicht immer zu ihm.

Er hat mir etwas zu essen gemacht, und ich habe gewartet. Gewartet darauf, dass Liv endlich nach Hause kommt. Es war schon nach fünf, als sie endlich kam. Sie sah müde aus, Tagebuch. Jonah hat sie begrüßt, und ihr Blick ist gleich auf mich gefallen.

„Marlene, was machst du denn hier?", war das Erste, was sie zu mir sagte.

„Sie ist schon den ganzen Tag hier und wartet auf dich. Sie ist wohl weggelaufen, aber mehr weiß ich auch nicht. Ich lass euch erstmal allein. Ich glaub, das wird ein Mädelsgespräch, in das ich mich nicht einmischen sollte", hat Jonah gesagt und ist aus dem Wohnzimmer gegangen.

Liv hat sich dann neben mich aufs Sofa gesetzt.

„Marlene, was ist denn los?", hatte Liv gefragt und hat mich angesehen.

„Ich hab mich mit Luana gestritten", hatte ich geantwortet.

„Und warum?", hatte sie gefragt.

„Sie verbietet mir, Mama zu sehen. Ich wollte sie besuchen." Meine Stimme war leise bei diesen Worten.

„Marlene, das liegt sicher nicht nur an Mama. Das war eine schwere Entscheidung, die deine Mutter da getroffen hat, und ihr müsst beide erstmal wieder damit zurechtkommen. Deine Mama könnte jeden Moment einen Rückfall erleiden. Es muss erst geschaut werden, ob sie so weit ist, dich wieder zu sehen, verstehst du das? Mama will dich nicht ärgern. Im Gegenteil, sie will, dass du später mal positive Erinnerungen an deine Mutter haben kannst und sie nicht nur so in Erinnerung hast, wie sie war, als sie krank war", hatte Liv gesagt.

„Ich vermisse sie so. Ich verstehe nicht, warum sie mich weggeschickt hat", hatte ich leise gesagt.

„Deine Mutter liebt dich wirklich sehr, Marlene. Für eine Mutter ist es das Schlimmste, ihr Kind zu verlieren oder es weggeben zu müssen. Das war eine ganz schwere Entscheidung für sie. Wenn sie für sich entschieden hätte, was sie will, dann wärst du jetzt immer noch bei ihr. Vielleicht wäre sie schon wieder krank, das kann keiner sagen, aber du hättest weiter darunter gelitten, und das wollte sie nicht mehr. Sie wollte nicht, dass du an ihrer Krankheit kaputt gehst. Das ist ein ganz schwerer Schritt, und das war unheimlich mutig von deiner Mutter, denn sie wusste, dass das eure letzte Chance ist. Aber sie hat für dich entschieden, für dein Wohl", hatte Liv gesagt und mich in den Arm genommen.

„Ich fahr dich gleich nach Hause, okay? Die anderen warten sicher schon auf dich", hatte Liv gesagt, und ich hatte nur genickt.

So wirklich verstehen kann ich es trotzdem nicht, warum Mama so gehandelt hat. Ich bin wohl noch zu klein, um das zu begreifen, Tagebuch.


Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt