Samstag, 15. November. 2008

87 17 66
                                    

Liebes Tagebuch,

ich habe schlimme Kopfschmerzen ...

Der Tag war grauenhaft.

Dabei hat er so gut angefangen. Als ich aufgestanden bin, stand eine Frühstücksdose auf dem Tisch mit einem Zettel darauf.

„Guten Morgen Schatz. Ich habe dir Frühstück gemacht, weil ich kurz wach war. Hab dich lieb, Mama" stand auf diesem Zettel.

Es hat mich so glücklich gemacht, denn Mama war in den letzten zwei Wochen so gut wie gar nicht aufgestanden.

In der Schule hat es zunächst den üblichen Trubel gegeben.

Den üblichen Ärger mit den anderen.

Liebes Tagebuch, es macht mich traurig, dass die anderen so gemein zu mir sind. Selbst die, die vor ein paar Monaten noch meine besten Freunde waren, reden jetzt kein Wort mehr mit mir.

Jeden Morgen ist es mittlerweile auch für mich ein Kampf aus dem Bett zu kommen. Ich wache jeden Morgen mit Bauchschmerzen auf. Bauchschmerzen, die ich allein dann bekomme, wenn ich an die Schule denke.

Ich fühle mich dort einfach nicht mehr wohl und zu Hause fühle ich mich neben Felix nicht sicher.

Kurz um, ich weiß nicht mehr, wo ich hinsoll.

Dennoch schleppe ich mich jeden Morgen aus dem Bett allein, weil ich nicht so werden will wie Mama.

Bei mir durfte es nicht auch noch regnen, auch wenn schon Wolken aufzogen.

Außerdem muss ich mich um Mama kümmern!

Liebes Tagebuch, ich hasse meine Klassenlehrerin. Heute hat sie mich vor der gesamten Klasse lächerlich gemacht. Sie hat an meinem Beispiel erklärt, wie die anderen nie werden sollen.

Dumm.

Faul.

Und verwahrlost.

Dann hat sie die anderen dazu aufgefordert, mir zu sagen, wie ich mein Verhalten ändern könnte, und dann hat sie mir einen Vortrag darüber gehalten, was mit mir passieren wird, wenn ich mir nicht endlich wieder Mühe gebe.

„Du wirst auf der Straße landen. Ohne Job, ohne Geld, ohne Abschluss. Du wirst mal der Abschaum werden, den niemand leiden kann, der allen, die arbeiten, das Geld aus den Taschen zieht. Du wirst mal jemand, der stiehlt und im Gefängnis landet", hat sie mir an den Kopf geworfen.

Währenddessen hat sie mich nicht zu Wort kommen lassen. Ich musste das über mich ergehen lassen und konnte nichts dagegen tun.

Ich war fertig.

Das war nicht fair. Ich würde alles ändern, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Die Klasse hat mich danach ebenfalls beschimpft und mit Sachen beworfen. Meine Lehrerin hat vorne gestanden und nichts dagegen getan. Ich habe es nicht mehr ausgehalten und bin nach Hause gerannt.

Zu Hause hat mir Felix aufgelauert und mich angeschrien, warum ich so früh Zuhause bin und hat mir eine heftige Ohrfeige gegeben.

Ich habe mich dann weinend in meinem Zimmer eingeschlossen.

Ich habe Kopfschmerzen und bin fertig. Ich kann nicht mehr...

--------------------------------

Bis heute hasse ich diese Lehrerin. Ich kann nicht verstehen, warum sie das getan hatte. Sie hatte meine Not erkannt, aber statt mir zu helfen, hat sie nachgetreten und mich fertiggemacht.

Jemanden zu ärgern ist die eine Sache, aber nachzutreten, wenn jemand schon am Boden liegt, ist wirklich asozial. Ich war damals acht Jahre alt.

Acht!

Wie konnte man nur so sein und so ein kleines Mädchen so fertig machen. Fragen über Fragen und es gab keine Antworten, aber ich wollte Antworten! Jetzt, wo ich diese Zeilen gelesen hatte.

Ich stand vor der Tür meiner Lehrerin.

Ich hatte mich schon immer gefragt, was sie gegen mich gehabt hatte.

Sie öffnete die Tür.

Sie war alt und gebrechlich geworden. So hatte ich sie sicher nicht mehr in Erinnerung.

„Was willst du?", fragte sie.

„Antworten", sagte ich stumpf. „Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?", fragte ich.

„Sollte ich? So wichtig bist du sicher nicht", sagte sie.

Sie war noch genauso wie damals.

„Marlene König heiße ich. Sagt ihnen das was?", fragte ich.

„Na sicher. Das kleine, faule Mädchen, aus dem nie was werden konnte. Was willst du? Geld? Ich habe dir damals schon gesagt, dass du nie etwas erreichen wirst. Warum bist du hier? Um mir zu sagen, dass ich recht hatte?", fragte sie.

„Ich bin hier, um ihnen zu sagen, dass sie falsch lagen. Ich habe mein Abi in der Tasche und habe mich an einer Uni beworben. Ich will wissen, warum sie mich damals so behandelt haben. Ich war acht Jahre alt und sie haben dafür gesorgt, dass alle mich gehasst haben. Dass alle mich geärgert haben", sagte ich.

„Man sieht meistens schon bei kleinen Kindern, was mal aus ihnen wird und häufig hilft es ihnen, wenn sie nie mehr von sich erwarten, als sie erreichen können", sagte sie.

„Merken Sie, was sie da reden?", fragte ich wütend.

„Ach Marlene. Du warst eine so gute Schülerin. Deine Mutter hat immer dafür gesorgt, dass du immer deine Hausaufgaben hast und lernst.

Man entwickelt als Lehrer eine Erwartungshaltung an seine Schüler und der bist du von einem auf den anderen Moment nicht mehr nachgekommen", sagte sie.

„Das ist richtig, aber haben sie mal darüber nachgedacht, warum das so ist? Sie sind die Einzige gewesen, die wenigstens gemerkt hat, dass ich mich verändert habe. Sie hätten mir helfen können!", sagte ich.

„Sehe ich aus wie eine Seelsorgerin?", fragte sie.

„Mama war mal ihre beste Freundin. Warum, kann ich absolut nicht nachvollziehen. Sie sind eine so unsympathische Frau. Haben sie sich nicht mal gefragt, warum Mama sich nicht mehr um diese Sachen gekümmert hat? Nein? Dann sage ich es ihnen. Mama war zu diesem Zeitpunkt zutiefst depressiv, sie ist tagelang nicht aufgestanden und ich habe mich um sie gekümmert. Ich habe mit acht Jahren für sie gekocht! Mein Vater saß im Knast und sie hat sich einen neuen Mann ins Haus geholt, der ein alkoholkranker Schläger war. Das war für mich schon schlimm genug und dann kamen sie und haben mein Leben zur Hölle gemacht! Ich konnte schon damals nicht mehr und sie haben immer noch nachgetreten und selbst nicht aufgehört, wenn ich schon geweint habe. Stattdessen haben sie noch die ganze Klasse auf mich gehetzt. Ich will sie auch gar nicht weiter stören, ich wollte ihnen nur sagen, dass sie einen entscheidenden Beitrag dafür geleistet haben, dass ich nie positiv auf meine Kindheit schauen kann. Denken Sie da mal drüber nach, bevor Sie das nächste Mal mit einem Kind reden!", sagte ich und ging wieder.

Ich wusste nicht, wie sie reagiert hatte, aber das war mir auch egal. Es fühlte sich gut an, das mal gesagt zu haben. Ich hatte endlich den Frust loswerden können, der sich schon als kleines Mädchen angesammelt hatte.

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt