19. September.2010

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**Liebes Tagebuch,**

Ich bin wach. Mehr oder weniger. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe dir. Heute war ein anstrengender Tag. Gleich am Morgen kam Luana zu mir, und sie hatte Paulina dabei. Paulina bedeutete, dass ich reden musste, auch wenn ich es nicht wollte. Schon da wusste ich, dass der Tag nur noch schlimmer werden konnte.

Paulina setzte sich zu mir und sagte, dass ich aufstehen soll. Ich wollte einfach nur, dass sie mich in Ruhe lässt. Ich habe mich weggedreht, aber sie hat mich gepackt und regelrecht aus dem Bett gezerrt. Dann stellte sie sich direkt vor mich, sodass ich sie ansehen musste.

„Marlene, was ist los? Was geht dir gerade durch den Kopf?", fragte sie mich. So viel, Tagebuch, aber ich konnte es nicht in Worte fassen.

-"Mir fehlen die Worte, ich
Hab' die Worte nicht
Dir zu sagen, was ich fühl'.
Ich bin ohne Worte, ich
Finde die Worte nicht,
Ich hab' keine Worte für dich."-

Das sind Zeilen aus einem Lied, das nächstes Jahr erscheinen wird. Bei Liv läuft die Hörprobe jetzt schon in Dauerschleife. Es ist von einem Newcomer-Sänger namens Tim Bendzko. Berühmt wurde er durch eine Fernsehsendung, und Liv ist total vernarrt in ihn. Nächstes Jahr wird sein erstes Album herauskommen, und Liv fiebert schon auf diesen Moment hin. Diese Zeilen hört sie sich ständig an, und es nervt mich, Tagebuch. Aber um ihr das zu sagen, hätte ich mein Zimmer verlassen müssen, und das habe ich nicht getan.

-"Mir fehlen die Worte, ich
Hab' die Worte nicht
Dir zu sagen, was ich fühl'.
Ich bin ohne Worte, ich
Finde die Worte nicht,
Ich hab' keine Worte für dich."-

Wieder schreibe ich diese Zeilen, und sie sind so verdammt wahr, Tagebuch. Ich finde einfach keine Worte, mit denen ich Paulina sagen könnte, wie ich mich fühle. Vielleicht geht es in diesem Lied eigentlich um Liebe, aber es trifft trotzdem zu. In fast jedem Popsong geht es um Liebe – ob ums Verliebtsein oder ums Verlassenwerden. Am Ende dreht sich fast alles um Liebe.

„Marlene, sag mir, wie du dich fühlst. Sag irgendwas", sagte Paulina wieder.

Tagebuch, wusstest du, dass die deutsche Sprache aus über 23 Millionen Wörtern besteht? Wie kann es dann sein, dass man nie die richtigen findet? Paulina sah mich die ganze Zeit an und wartete auf eine Antwort. Es hat mich so genervt, Tagebuch. Ich wollte einfach, dass sie wieder geht und mich in Ruhe lässt.

„Marlene, ich werde nicht gehen, bevor du nichts gesagt hast! Sag, wie du dich fühlst, was dir durch den Kopf geht, oder sag sonst irgendwas, aber sorge dafür, dass ein Wort aus deinem Mund kommt", sagte sie mit Nachdruck.

„Du nervst!", das waren die Worte, mit denen ich mein Schweigen gebrochen habe.

„Das waren sogar schon zwei. Warum nerve ich dich?", fragte sie weiter.

Tagebuch, ich wollte nur, dass sie verschwindet. Dass sie mich in Ruhe lässt! Ich wusste, welche Fragen folgen würden, wenn ich weiter mit ihr rede, und ich wollte alles verdrängen, was mit Mama und den letzten drei Monaten zu tun hat. Ich wollte es vergessen. Es macht mich fertig, daran zu denken.

„Marlene, du musst eine gewisse Schwelle überschreiten, dann wird es einfacher. Du versuchst im Moment, alles zu verdrängen, aber es ist wichtig, dass du redest, damit du das verarbeiten kannst. Warum nerve ich dich?", fragte sie weiter.

Diese Fragen. Ihre Stimme. Ich wollte das nicht! Es ist wieder eines dieser Gespräche, das sich in meine Gedanken eingebrannt hat.

„Weil du gehen sollst! Ich will meine Ruhe haben!"

„Du willst also allein sein! Warum?"

Ich habe nicht geantwortet.

„Du willst allein sein, damit du nicht nachdenken musst. Damit du nicht an deine Mama, den Rückfall, die Depressionen denken musst", sagte sie.

„Hör auf damit", sagte ich.

„Nein! Ich werde nicht aufhören! Sag es mir. Stimmt es? Du willst nicht darüber nachdenken, weil du dir wieder die Schuld gibst, weil du denkst, dass du Fehler gemacht hast", fuhr sie fort.

Diese Worte taten so weh, Tagebuch. Ich begann zu weinen. Sie hörte nicht auf, und irgendwann konnte ich nicht mehr und schrie sie an.

„Sei endlich still, verdammt! Ja, ich will nicht daran denken. Du hast recht!", rief ich, und damit kam ich in die Realität zurück.

Ich war erschöpft, aber Paulina hatte es durch ihre Methode geschafft, mir eine Leiter in das Loch zu stellen, in dem ich mich befand, und mich dazu zu bringen, ein Stück nach oben zu klettern. Von dort, wo ich jetzt bin, kann ich die Sonne wieder sehen, aber ich könnte jederzeit wieder herunterfallen.

Ich weinte immer noch, und Paulina nahm mich in den Arm. Sie sagte, dass es ihr leid tut, aber dass ich an diesen Punkt kommen musste, damit es mir wieder besser gehen kann. Sie versprach, jetzt regelmäßig zu kommen, bis es mir besser geht, und Luana schleppte mich in die Küche, damit ich endlich etwas esse. Viel war das nämlich nicht, seit ich hier bin.

Tagebuch, auch wenn es mehr als furchtbar war, war es gut, was Paulina getan hat. Luana erklärte mir, dass das, was ich durchmachte, eine Art Schockzustand war. So etwas bekommt man, wenn man einen Unfall hatte oder etwas Schlimmes gesehen hat. Es sorgt dafür, dass man keine Schmerzen spürt, wenn man verletzt ist, dass Wunden nicht so stark bluten oder eben, dass man nicht zu viel über das nachdenkt, was man gerade erlebt hat. Luana sagte, dass man aus diesem Zustand ausbrechen muss, zumindest wenn Medikamente nicht helfen, und genau das hat Paulina getan. Sie hat mich aus diesem Zustand geholt, zurück ins echte Leben.




Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt