Montag, 28. September. 2009

79 18 19
                                    


Liebes Tagebuch,

heute in der Schule ist etwas passiert, was mir Angst macht. Was mir so schlimm Angst macht.

Heute Morgen war noch alles in Ordnung.

Ich bin wie immer zur Schule gegangen und saß im Unterricht.

Frau Schröder, meine Klassenlehrerin, hat mich nach vorne zu ihr gerufen und mich gefragt, warum ich noch immer die Unterschrift im Hausaufgabenheft nicht habe, die ich brauche, um an einem Ausflug teilzunehmen.

Ich habe ihr gesagt, dass Mama wenig Zeit hat und sie hat mich gefragt, ob sie viel arbeiten muss. Ich habe mit Ja geantwortet, auch wenn das nicht stimmt.

Dann hat sie mich gefragt, warum mein Vater es nicht unterschreibt. Er hat mich immerhin auch hier angemeldet.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil sie ja von zwei unterschiedlichen Menschen sprach und hab mich schließlich dafür entschieden zu sagen, dass mein Vater im Gefängnis sitzt und Felix gar nicht erwähnt.

Die anderen haben das mitbekommen.

Frau Schröder hat mich gefragt, wer sich dann um mich kümmert, wenn Mama so viel arbeitet.

Ich habe von Frau Krause erzählt.

Ich weiß nicht, warum ich so viel Lüge anstatt die Wahrheit zu sagen, Tagebuch. Ich habe mit Frau Krause schon mindestens einen Monat kein Wort mehr gewechselt.

In der Pause kamen dann ein paar Jungs aus meiner Klasse zu mir und haben sich darüber lustig gemacht, dass mein Vater im Gefängnis ist.

Sie haben gesagt, dass Kinder von Mördern selbst mal zu Mördern werden und dass ich später auch mal dafür ins Gefängnis komme.

Warum sind alle so unfair?

Ich habe es über mich ergehen lassen und schließlich wurde es ihnen zu langweilig und sie haben angefangen, mich umher zu schubsen.

Ich bin dabei irgendwie gestolpert und nach hinten umgefallen.

Mir ist kurz schwarz vor Augen geworden und als ich wieder zu mir gekommen bin, sah ich Liv, welche die Jungs wütend anschrie, was das sollte und dass sie jetzt sofort zur Direktorin gehen sollten.

Ich habe mich hingesetzt und sie hat mich gefragt, ob alles in Ordnung ist.

Ich habe nur genickt.

Sie hat mich darum gebeten, mit ihr mitzukommen.

Ich wollte es nicht. Ich hatte irgendwie Angst, aber ich bin trotzdem mitgegangen.

Sie hat mich in ihren Raum geführt.

Darin sah es wirklich gemütlich aus. Es stand ein Sofa und ein Sessel darin, ein Tisch und ein kleiner Couchtisch.

Ich habe mich auf das Sofa gesetzt. Ich war nervös.

Liv hat zu mir gesagt, dass sie weiß, dass es nicht leicht ist, die Neue zu sein, gerade wenn man so wie ich eher ruhig und schüchtern ist und sie hat mich gefragt, wo genau das Problem liegt. Ob ich Probleme habe, mich in die Klasse zu integrieren. Sie hat gesagt, dass sie mir gerne hilft, wenn ich ihr sage, wo genau das Problem liegt.

Ich habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung ist

Tagebuch, ich habe ihr gesagt, dass ich keine Hilfe brauche.

Sie hat etwas gesagt, was mich zum Schweigen gebracht hat.

„Weißt du Marlene, meistens sind die Menschen, die keine Hilfe wollen, die, die sie am dringendsten brauchen."Tagebuch, sie hat so recht, aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen.
Leute, die etwas wirklich belastet, fällt es meistens sehr schwer, darüber zu reden. Ich weiß, es hört sich wirklich blöd an, aber ich bin der Meinung, dass Menschen, die jedem von ihren Problemen erzählen, nie wirklich welche haben.

Menschen, die schweigen, haben so viel zu sagen. Menschen, die immer reden, haben schon alles gesagt, aber sie reden trotzdem immer weiter ...

Tagebuch ich glaube, ich bin wirklich etwas abgestumpft durch die Situation zu Hause, aber ich habe für manche Sachen einfach kein Verständnis mehr. In meiner alten Klasse war ein Mädchen mit den Nerven am Ende, weil sich ihre Mutter den Finger gebrochen hat. Es ist vielleicht wirklich blöd von mir, aber ich habe für ihre Sorgen kein Verständnis. Es ist nur ein gebrochener Finger. Sie wird schnell gesund werden, in ein paar Wochen spricht keiner mehr darüber und es ist auch nichts, was ihr Leben verändern würde.

Tagebuch ich habe eine Weile schweigend auf dem Sofa gesessen, dann ist mir so schwindelig geworden und ich habe Kopfschmerzen bekommen.
Liv hat das sofort gemerkt und mich nach nebenan gezerrt zu den Schulsanitätern.
Im Raum sind welche aus der Abiturklasse gewesen.

Ein Junge und ein Mädchen.
Liv stellte sie mir als Timo und Mia vor und sagte auch meinen Namen.
Sie bat die beiden darum, nach mir zu sehen. Sie sagte, dass ich nach hinten umgefallen war und es mir jetzt nicht gut ging.
Mich ließ sie dabei nicht zu Wort kommen und irgendwie war ich auch froh darüber.

Es war der Junge, der näher gekommen ist und mich untersuchen wollte.

Tagebuch, ich habe mich richtig unwohl gefühlt. Ich wollte nicht, dass er mich anfasst. Er war schon fast ein Mann. Das ging nicht, ich konnte das nicht. Ich wollte das nicht.
----------------

Noch heute fühle ich mich unwohl, wenn ich an diese Situation zurückdenke. Ich hatte damals einfach nie gute Erfahrungen mit Männern gemacht. Papa war irgendwie immer verrückt gewesen und immer schlecht gelaunt. Er hatte mich hin und wieder mal geschlagen, aber die meiste Zeit war er nicht zu Hause und dann gab es noch Felix. Er war ein alkoholkranker Schläger gewesen.

Das alles hatte mich geprägt. Bis heute fiel es mir schwer, Männer an mich heranzulassen. Noch heute konnte ich nicht zu männlichen Ärzten gehen und das, obwohl das mittlerweile so viele Jahre her ist. Aber es hat mich geprägt.

----------------

Tagebuch Ich weiß, dass das verrückt klingt oder dass ich vielleicht eine Schraube locker habe, aber ich hatte Angst vor ihm, obwohl ich ihn nicht mal kannte. Ich weiß nicht, ob er böse ist, ich glaube nicht, dass er böse ist, doch trotzdem hatte ich Angst vor ihm.

Ich glaube, das ist schwer zu verstehen Tagebuch, aber stell dir vor, du wurdest von einem Hund gebissen. Du hast dann automatisch vor jedem anderen Hund Angst, obwohl sie dich nie gebissen haben. So ist das bei mir nur, dass die Hunde männliche Menschen sind.

Timo hat zum Glück selbst gemerkt, dass ich mich nicht wohlfühle und hat Mia gesagt, dass sie das lieber machen soll.

Von Mia ließ ich mich anfassen, das war ok.

Tagebuch, ich kann mich an Timos Gesichtsausdruck erinnern. Er sah gekränkt aus, aber ich konnte nichts dafür.

Mia hat gesagt, dass ich eine Gehirnerschütterung habe und nach Hause gehen muss.

Meine Sicht verschwamm immer mehr, während sie das sagte und mir ist wieder schwarz vor Augen geworden.

Tagebuch, als ich wieder aufgewacht bin, hatte sich eine fremde Frau über mich gebeugt.

Ich war erschrocken, aber sie stellte sich als Ärztin vor und sagte, dass sie Luana hieß.

Tagebuch, ich weiß nicht warum, aber ich konnte nicht so gut atmen, als ich wieder aufgewacht bin und meine Rippen taten immer noch weh.

Luana hat das gemerkt und ohne Vorwarnung mein T-Shirt hochgezogen. Sie hat mich fast schon schockiert angesehen, genau wie die anderen auch.

Diesen Blick werde ich nie vergessen.

Sie hat mich gefragt, wie das passiert ist und das so, was nicht einfach beim Hinfallen passiert und schon ein paar Tage alt ist.

Ich bin aufgestanden und zur Tür gerannt.

Luana hat mich festgehalten und ich habe sie angeschrien, dass sie mich loslassen soll. Ich habe in ihrem Blick gesehen, dass sie das eigentlich nicht tun wollte, sie ließ mich trotzdem los und ich bin nach Hause gerannt.

Tagebuch seitdem sitze ich hier in meinem Zimmer und weiß nicht, was ich tun soll. Jetzt ist es endgültig vorbei...



Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt