Liebes Tagebuch,
in letzter Zeit weint Mama sehr viel.
Frau Schulz hat gesagt, das ist normal. Es ist sogar gut, aber ich verstehe nicht, was gut daran sein soll zu weinen.
Mama hat gesagt, ich soll weinen, nicht immer mit Trauer in Verbindung bringen. Ich soll versuchen zu verstehen, dass das etwas Erleichterndes hat.
Je mehr sie weint, desto früher steht sie auf.
Heute hat sie mir sogar Frühstück für die Schule gemacht.
Mama hat zu mir gesagt, dass es ihr langsam wieder besser geht.
Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht glauben kann, wenn sie so viel weint und Mama hat gesagt, dass sie in dem Wasser ertrinken würde, wenn sie es nicht herauslassen würde.
Wieder etwas, was ich nicht verstanden habe.
Es kommt mir manchmal so vor, als ob Erwachsene in einer anderen Welt wohnen. In einer Welt, die ich nicht verstehen kann.
Ich muss immer nachfragen und trotzdem sind da so viele Sachen, die ich nicht verstehen kann.
Mama hat mir gesagt, das Depressionen bedeutet sehr traurig über etwas zu sein und sich zu nichts mehr motivieren zu können. Durch die Trauer regnet es. Wenn man sich nicht die ganze Zeit im Bett vor dem Regen verstecken möchte, dann muss man sich nass regnen lassen und das Wasser staut sich und muss in Form von Tränen wieder nach draußen.
Ich habe Mama gefragt, ob sie weiß, wie viele Löcher ihr Regenschirm noch hat. Sie hat nur gesagt, dass es schon deutlich weniger geworden sind, da sie nicht mehr so oft nass wird. Ich frage mich, wie stark dieser Regen sein muss, wenn sie dann trotzdem noch so schlimm nass wird. Vielleicht ist es wie das Wetter gestern.
Unsere Nachbarin Frau Krause, die im Moment für uns einkaufen geht, hat gesagt, dass es Bindfäden regnet.
Das war wieder etwas, worüber ich nachdenken musste. Wie konnte es Bindfäden regnen?
Es kam trotzdem nur Wasser vom Himmel...
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Mit einem Lächeln auf den Lippen blätterte ich um. Das mit den Sprichwörtern musste ich wohl noch lernen. Ich merkte das Meinen Jüngeren ich gerade klar wurde was Hoffnung war. Hoffnung auf bessere Zeiten.
Ich bin froh, dass ich damals Frau Krause hatte. Ich weiß nicht, warum ich sie in meinen Tagebucheinträgen nie erwähnt hatte, aber jetzt, wo ich es wieder lese, muss ich wieder daran denken, wie wichtig mir die alte Frau aus der Nachbarschaft damals war. Schon am ersten Tag, wo ich morgens allein zur Schule gegangen war, hatte sie mich nach der Schule abgefangen und gefragt, was los ist. Sie hatte das Polizeiauto gesehen. Ich hatte ihr von Mama erzählt und gesagt, dass Papa ein böser Mensch geworden ist. Sie war noch am selben Tag zu uns gekommen und hatte ihre Hilfe angeboten, obwohl Mama ihre Hilfe mehr als deutlich abgelehnt hat, war sie für uns einkaufen gegangen und das ohne je Geld von uns zu verlangen. Jetzt, wo ich selbst erwachsen war, wollte ich ihr etwas zurückgeben. Frau Krause war alt und gebrechlich geworden. Jetzt ging ich für sie einkaufen und ich nahm kein Geld. Sie konnte sich von ihrer kleinen Rente gerade so ihre Wohnung leisten. Und sie konnte es trotzdem nicht lassen, mir jedes Mal Geld zu geben. Das nahm ich immer dankbar an und ließ es immer „aus Versehen" auf der Kommode neben ihrer Haustür liegen. Sie freute sich jedes Mal darüber, wenn sie das vergessene Geld wiederfand.
Frau Krause hat mir neulich erzählt, dass Mama wirklich Glück hatte, dass es mich gab. Sie hat gesagt, dass sie wusste, dass ich sie nie im Stich lassen würde. Frau Krause selbst hat fünf Kinder. Keines von ihnen war im letzten halben Jahr zu ihr zu Besuch gekommen, um sie zu unterstützen und das, obwohl eine ihrer Töchter gerade mal zehn Minuten entfernt wohnte.
Sie hat gesagt, dass sich Mama in irgendeiner Art und weiße glücklich schätzen kann, dass sie damals so krank war. So hatte ich früh gelernt, dass man nicht nur gute Zeiten hatte und in den Schlechten zusammenhalten musste. Sie sagte, dass Mama sich nie Sorgen darum machen musste, dass ich sie im Stich ließ, wenn sie mal alt und schwach wurde. Sie hat gesagt, dass ihre Kinder wohl eine zugute Kindheit hatten und nie schlimme Zeiten und Schwäche erleben mussten. Also hielten sie sich jetzt fern von ihr.
Sie sagte dann etwas, was mich sehr traurig machte.
„Sie werden sich wohl erst wieder für mich interessieren, wenn ich im Grab liege. Sie werden diejenigen sein, die sich über ihr Erbe hermachen und am Grab dann so tun, als wären sie traurig, mich verloren zu haben. Ich dachte immer, meine Kinder würden nicht so werden. Aber sie haben wohl vergessen, dass ich ihre Hand bei ihren ersten Schritten hielt und ihnen immer und immer wieder dir selbe Geschichte vorgelesen habe. Ich weiß, dass ich nicht mehr ganz richtig im Kopf bin, das merke ich. Marlene, ich weiß, dass ich manchmal Sachen zweimal sage, aber ich habe mir immer gewünscht, dass sie dann einfach zuhören. Ich habe ihnen so oft dieselben Geschichten vorgelesen und so können sie sich jetzt auch zweimal etwas von mir anhören. Marlene, ich weiß, dass ich nicht mehr so gut zu Fuß bin. Aber ich hielt ihre Hand bei ihren ersten Schritten und hab mir immer gewünscht, dass sie meine bei meinen letzten halten. Das habe ich mir gewünscht ...", sagte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf hätte antworten sollen.
Nach einer Weile sagte sie, dass sie froh war, eine so tolle Enkelin zu haben.
Ich habe erst nicht gewusst, was sie meinte, dann sagte sie, dass ich für sie längst nicht mehr das kleine Nachbarsmädchen war, sondern jemand, der für sie da war und das, obwohl es von mir nicht verlangt wurde. Sie hat gesagt, das ist das größte Geschenk der Welt. Die, von den man erwartet, dass sie da sind, tun es nicht und von mir erwartet niemand etwas, aber ich bin trotzdem da.
Ich glaube, dass ich von dieser Frau viel gelernt habe und auch noch sehr viel lernen werde.
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Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändern
Teen Fiction-Depressionen betreffen die ganze Familie auch wenn nur ein Mitglied daran erkrankt ist- Das das Leben nicht fair ist, bekommt die siebenjährige Marlene zu spüren. Seit sie Schreiben gelernt hat vertraut sie ihrem Tagebuch ihre Sorgen an. Bisher bes...