Kapitel 60

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Vorsichtig legte ich mich neben meinen Sohn und versuchte ihn zu beruhigen. "Das Kind rührt sich nicht!", brüllte Mario vom Kinderzimmer her. "Wie bitte?", schrie ich und sprang auf. "Ruf einen Krankenwagen!", brüllte er und Felix kam mir entgegengerannt und lief zum Telefon. "Was ist los?!", fragte ich verzweifelt und bückte mich über das kleine Kinderbett. "Sie atmet nicht mehr", schrie Mario und nahm sie heraus. Mit zittrigen Händen tastete ich vorsichtig an ihrem Hals herum und sie hatte tatsächlich keinen Puls mehr. "Es wird alles wieder gut, der Krankenwagen ist gleich da", beruhigte mich mein Freund, "pack eine Tasche zusammen". Seine Worte beruhigten mich, deswegen lief ich zum Schrank und suchte einige ihrer Kleidchen zusammen. Wenige Augenblicke später stand der Krankenwagen vor unserer Haustür. "Sie atmet nicht mehr", schrie Mario und seine Stimme klang auf einmal kein Bisschen mehr ruhig. "Wir nehmen sie mit", meinte der Sanitäter kalt und nahm Lia auf seinen Arm. "Ich geh mit", meinte Mario und lief ihm hinterher. Felix hatte derweil Philipp zur Ruhe gebracht und wickelte ihn in eine Decke ein. Geschockt stützte ich mich am Türrahmen ab. "Beruhig dich, es wird alles gut", flüsterte er und umarmte mich, "komm wir fahren ins Krankenhaus". Sofort packte ich mir meine Jacke und schlüpfte in meine Air Max. Mir war es total egal, ob ich noch meine Jogginghose trug oder nicht, ich wollte einfach nur Gewissheit. Felix setzte sich neben mich auf den Beifahrersitz und legte Philipp auf seinen Schoß. "Er hat es gespührt, dass es ihr nicht gut geht", seufzte er und strich ihm übers Gesicht. "Felix was ist wenn es was schlimmes ist", jammerte ich und fuhr auf die Hauptstraße Richtung Schwabing. "Jenna das ist bei kleinen Kindern öfters so, ich kenn das von meiner alten Freundin, die hatte auch eine kleine Schwester und da ist das gleiche passiert", meinte er ganz ruhig. Irgendwie beruhigte mich diese Geschichte. Ich fuhr in die Kinderklinik nach Schwabing und fuhr direkt zum Eingang der Intensivstation. Dort sprintete ich in die Notaufnahme und traf sofort auf Mario. Er saß auf einem Stuhl und hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben. "Was ist los?!", fragte ich ihn ein drittes Mal. "Ich weiß es nicht", schluchzte er und legte meinen Arm um mich. "Was soll das heißen du weißt es nicht", jammerte ich und mir schossen die Tränen ins Gesicht. "Was ist, wenn sie eine schlimme Krankheit hat", weinte ich. Eineinhalb Stunden saßen wir vor der weißen Tür und warteten auf eine Antwort. Es war schrecklich. Niemand traute sich etwas zu sagen. Felix kümmerte sich die ganze Zeit um Philipp und rief auch Fabian an, vielleicht um uns ein Bisschen Trost und Ablenkung zu spenden. "Was ist denn los?", fragte er, als er mit Irina ankam aufgebracht und setzte sich neben seinen Bruder. "Ich weiß es nicht, sie hat heute früh nicht geatmet, mehr wissen wir auch nicht", jammerte er. Das Fabian darauf nichts sagte machte mit unruhig. "Wie lange brauchen die denn um festzustellen was sie hat", seufzte ich und strich mir eine Träne aus der Augenfalte. "Komm Jenna, wir gehen einen Kaffee holen", flüsterte Irina und zog mich auf. Wir liefen in die Cafeteria zum Automaten und die Uhr zeigte sechs Uhr an. Ich fühlte mich leer und hatte noch sie soviel Angst. Mit zittrigen Händen hielt ich die zwei Becher in der Hand und lief zurück zur Intensivstation. Noch war alles ruhig. Von Weitem sah ich Mario auf dem Boden knien. Er weinte. Vor ihm stand der Doktor und unterhielt sich mit Fabian. Jetzt bekam ich wirklich Angst. "Welche Krankheit hat sie?", weinte ich. "Sie hat keine Krankheit", weinte Mario und stand auf. Er fiel mir um den Hals: "Sie ist tot". "Was?", schrie ich und sackte in seinen Armen zusammen. "Plötzlicher Kindstod", flüsterte er mir tränenerstickter Stimme. Ich verstand die Situation nicht. "Nein das kann nicht sein", flüsterte ich, "nein, nein, nein", schrie ich und begann zu weinen. Langsam sank ich auf den Boden: "Wieso passiert immer mir sowas", schrie ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Eine Krankenschwester kam mit einem kleinen Bündel aus dem Zimmer. "Wollen sie sie noch einmal sehen?", fragte sie vorsichtig. Verlangend streckte ich meine Arme aus und nahm meine Tochter entgegen. Bei ihrem Anblick begann ich zu schreien. Mario setzte sich neben mich und berührte ihren kleinen Kopf. "Das ist nur ein Traum oder", murmelte er und schüttelte sich. "Es ist kein Traum", heulte ich, "unsere Tochter lebt nicht mehr!" Nie schaffte ich irgendwas. Ich konnte mir ein Leben ohne Lia nicht vorstellen. Weil sie mir zu schwer wurde gab ich sie an Mario weiter, der auf einmal zusammenbrach. Fabian stützte ihn und flüsterte ihm irgendwas zu. Ich konnte nicht fassen was gerade geschah. Der Arzt stand immernoch da. "Wie kann das sein?", weinte ich und stand auf. "Wollen sie das wirklich wissen?", fragte er. Verzweifelt nickte ich und hielt mich am Stuhl fest. "Setzen sie sich", meinte er leise und setzte sich neben mich. "Der plötzliche Kindstod kann in den ersten drei Lebensjahren eintreten. Wenn sie sich die Ursachen dafür anschauen wird ihnen auffallen, dass bei ihrer Tochter die meisten zutreffen. Zu früh geboren, zu niedriges Geburtsgewicht, Zwilling und Stress". "Sind wir also schuld?", keuchte ich. "Das kann man so nicht sagen. Natürlich hatte ihr Kind besonders viel Stress, aber der Kindstod tritt in so wenigen Fällen auf, dass es eher ein schlimmer Zufall ist", antwortete er, "mein Beileid". Ohne ihn weiter zu beachten setzte ich mich wieder zu meinem Freund auf den Boden. Er zitterte am ganzen Körper und die Tränen überflossen sein Gesicht. Felix saß auch weinend da und Fabian hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. "Ich muss hier raus", weinte ich und zog meinen Freund auf. Er gab Lia wieder an den Arzt ab und nahm meine Hand. Gemeinsam stolperten wir den Gang entlang und traten ins Freie. Es wurde langsam hell und im Moment wusste ich einfach gar nichts. "Mario wie soll ich das meinem Vater erklären", heulte ich und schmiegte mich an seine Brust. "Ich weiß es nicht Baby", weinte er, "ich versteh das alles nicht". Wieder kam ein Krankenwagen an und ein kleines Mädchen wurde eingeliefert. "Ich hätte sie so gerne aufwachsen sehen", schluchzte mein Freund, "ich wollte, dass sie meine kleine Prinzessin wird". "Das wollten wir Beide", flüsterte ich. Wir standen eine Viertelstunde nur in unseren Armen liegend da und weinten. Wir hatten das wichtigste, was uns verbindete verloren. Den Gegenstand, den wir beide am meisten in unserem Leben liebten. "Komm wir gehen wieder rein", weinte ich und zog ihn nach Innen. Wie benommen torkelte ich ihm hinterher. Felix und Fabian hatten sich mit Philipp in ein Krankenzimmer gesetzt. "Ich will das nicht", heulte Felix und fiel seinem großen Bruder um den Hals. Es machte Marios Trauer nurnoch schlimmer. "Wir müssen... unsere Familien anrufen", heulte er und holte sein iPhone heraus. Mit zittrigen Händen tippte er daurauf herum und nahm es ans Ohr. Ich spührte, dass er Angst hatte die Stimme am anderen Ende zu hören. Jemand meldete sich. "Mama?", weinte er, "es ist was schreckliches passiert". Weiter kam er nicht. Seine Tränen erstickten seine Stimme und er ließ das Telefon aus der Hand fallen. "Ich mach das", schaltete sich Fabian ein und nahm das Handy in die Hand. Er verließ den Raum und kam ganz lange nicht mehr. "Guten Morgen mein Großer", flüsterte Felix, als Philipp auf seinen Beinen aufgewacht war. "Felix es tut mir so leid", heulte ich. "Was tut dir leid?", fragte er. "Du hast jetzt kein Patenkind mehr", erklärte ich. "Mach dir keine Gedanken um mich", flüsterte er und nahm mich in den Arm. Das einzigste was ein Wenig half war Trost von geliebten Personen. "Ich ruf bei euch Zuhause an", meinte Felix dann und stand auf. Ich war ihm unendlich dankbar. Jetzt saß ich mit Irina, Philipp und Mario im Zimmer und schwiegen uns an. Mein Herz weinte und ich kam mir unglaublich verloren vor. "Ich schaff das nicht", flüsterte ich und ging zu Philipp. "Wir schaffen das alle zusammen", meinte Irina und schaute uns Beide dabei an. Mich konnte sie da vielleicht noch überzeugen, doch Mario war nicht ansprechbar. Er war wie in seiner eigenen Welt. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn und er sackte langsam zu mir rüber. Wieder begann ich zu weinen und er legte seinen Kopf in meinen Schoß. "Wie lange haben wir auf sie gewartet", schluchzte er, "wir haben neun Monate jeden Abend dagesessen und haben zugeschaut wie sie größer geworden ist und als sie dann endlich da war hab ich es nicht mal geschafft Zuhause zu bleiben und mich um sie zu kümmern". "Mario hör auf", schrie ich, "du hast nichts falsch gemacht, Niemand hat etwas falsch gemacht". "Sonst würde sie noch leben", heulte er. "Sag sowas nicht", weinte ich, "es tut so weh". In dem Moment ging die Tür auf und Fabian kam wieder herein. Mario hob erst gar nicht den Kopf. "Und?", fragte ich und wischte mir eine Träne aus den Augen. "Sie sind heute Mittag da", flüsterte Fabian und stellte sich ans Fenster. Wenig später kam auch Felix mit einem Tablett Kaffee wieder. Die Minuten verstrichen und obwohl wir nicht mehr da sein sollten blieben wir den ganzen Früh im Krankenzimmer. Lia hatten sie längst mitgenommen und wir würden sie erst wieder an der Beerdigung das letzte Mal sehen. Wie wir das hinbekommen sollten war mir auch ein Rätsel, weil sie noch nicht einmal getauft war. Keiner wollte das Krankenhaus verlassen. Niemand traute sich nach Hause, weil dort eine große Leere entstehen würde. Um elf Uhr kam meine Familie herein. Ich saß neben Irina auf dem Boden an der Heizung und weinte, Fabian tröstete Felix und Mario hatten wir um neun Uhr einer Krankenschwester überlassen, weil er ein zweites Mal zusammengebrochen war. "Hallo mein Schatz", flüsterte mein Papa und setzte sich neben mich. Er nahm meine zittrigen Finger und nahm sie in seine Hände. "Papa ich wollte das nicht", weinte ich und vergrub mein Gesicht in seiner Umarmung. Wieder schrie ich aus Schmerz. "Jenna das Schicksal wollte es so", flüsterte er. Vorsichtig schaute ich nach oben und sah, wie Felix in Annis Armen lag. Beide fingen heftig an zu weinen. Es war meine Schuld. Ich war die Mutter und ich hatte meine Tochter sterben lassen. "Wo ist deine Freundin?", fragte ich. "Ich glaube es war besser sie nicht mitzubringen", flüsterte mein Papa und drückte mich nochmal an sich. Zustimmend nickte ich und stand auf. "Ich muss zu Mario", schniefte ich und öffnete die Tür. Ich taumelte den Gang entlang und suchte eine Schwester auf. "Wo liegt mein Freund?", weinte ich. Wortlos nahm sie mich an der Hand und führte mich zum Zimmer schräg den Gang runter. "Wir haben ihm Beruhigungsmittel gegeben", erklärte sie und öffnete die Tür. Wie in Trance trat ich ein und sofort öffnete Mario die Augen. Er rutschte ein Wenig zur Seite und ich legte mich neben ihn. Wir redeten nichts, doch für Beide war es schon jetzt der schlimmste Morgen in unserem Leben. "Sie ist nicht wirklich tot", flüsterte mein Freund und legte seinen Arm von hinten auf meine Schulter. Doch Mario! Sie ist tot! Weg für immer! hätte ich am Liebsten geschrien, doch es würden seine Nerven nicht aushalten. "Wir müssen uns daran gewöhnen", schluchzte ich und drehte mich in seine Richtung. "Ist meine Familie schon da?", fragte er. Mit geschlossenen Augen schüttelte ich den Kopf: "Nur Papa und meine Geschwister". "Ich hab Angst", gestand er und setzte sich auf. "Vor was?", wollte ich wissen. "Wir haben ihnen die Enkelkinder weggenommen", flüsterte er. "Mario hör auf damit", schrie ich, "ich will daran einfach nicht denken". Wenig später standen wir auf und ich führte meinen Freund rüber zu unserer Familie. Meine Schwester und mein Bruder fielen mir um den Hals und redeten mir irgendwelche Sachen ins Ohr, doch es interessierte mich nicht. Die ganzen Sie ist jetzt im Himmel Sachen halfen nichts. Lia war keine alte Frau gewesen, die schon soviel erlebt hatte. Sie war nicht einmal ein halbes Jahr alt und musste schon gehen. Sie wurde gezwungen zu gehen. Von Mario und Mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass Astrid und Jürgen im Raum standen. Langsam tappte ich hinüber zu meinem Schwiegervater. "..ich bin an allem schuld Mario", hörte ich Astrid weinen. "Mama du hast damit doch gar nichts zu tun", schluchzte Mario. "Hätte ich sie nicht mit nach Rio genommen wäre das nie passiert", schrie sie. Ihr Kopf war hochrot und so wie es aussah hatte sie schon im Auto geweint. "Astrid hör auf!", weinte ich und fiel ihr in die Arme, "hör auf, wir machen uns damit nur kaputt". Woher nahm ich diese Worte? Ich war die, die sich damit fertig machte. Niemals hätte ich gedacht, dass wir uns so schnell wieder zusammenfinden würden. Am Nachmittag fuhren wir zurück in unsere Wohnung, doch Alle kamen mit um uns beizustehen. Felix saß auf der Couch mit Mario und versuchte ihn irgendwie ruhig zu stellen, doch er litt von uns allen am meisten. Astrid machte sich von uns allen die größten Vorwürfte und ich saß den ganzen Abend und die ganze Nacht nur da und schaute auf den Boden. Begreifen konnte ich es nicht. Ich hatte einen Mensch, den ich 9 Monate lang in meinem Bauch getragen hatte einfach verloren.

Love never runs out (Mario Götze FF - ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt