Kapitel 74

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"Philipp! Komm jetzt endlich!", schrie mein Papa aus der Küche und stand auf einmal in meiner Zimmertür. "Jaa", stöhnte ich, noch viel zu müde, und packte meine Brotzeitbox in meinen Schulranzen. Seitdem Mama im Krankenhaus lag musste er sich um so gut wie alles kümmern. "Los, wir haben keine Zeit", drängte er und zog mir meine Jacke an. Früh lief es immer so ab. Papa musste zum Training an die Säbener Straße und ich in die Schule, genauer gesagt in die erste Klasse. Schnell liefen wir die Treppe herunter und stiegen in Papas Auto. Das Wetter war für einen April ziemlich gut, endlich. "Kommst du heute mit ins Krankenhaus?", fragte mein Papa, als er mich durch den Rückspiegel ansah. "Ich hab doch Training", erklärte ich kurz und schaute den vorbeirauschenden Häusern hinterher. "Freust du dich nicht auf deinen Bruder?", fragte er misstrauisch. "Doch", gab ich zurück, "aber den kann ich ja mein ganzes Leben danach noch anschauen". "Ich glaube Mama will dich aber auch mal wieder sehen und sie ist bestimmt traurig, wenn du schon wieder nicht dabei bist", redete er weiter und rauschte über eine große Kreuzung. Papa fuhr immer schnell. Vielleicht weil er einfach das schnellste Auto von allen Papas hatte. Allgemein hatte ich den coolsten Papa. "Vermisst du sie nicht?", fragte er noch einmal. "Doch", entgegnete ich. "Wir können auch nach deinem Training fahren", murmelte er und bog in die Straße meiner Schule ein. "Gehst du jetzt zum Training?", fragte ich und huckelte meine Fußballschultasche auf. "Natürlich", grinste er und blieb vor dem großen Schulhof stehen. "Okay wir können Mama heute besuchen", meinte ich entschlossen und öffnete die Autotür. "Da freut sie sich, viel Spaß heute Kamerad", grinste mein Papa und hielt mir, wie jeden Morgen, eine Ghettofaust hin. Ich checkte ein und sprang aus dem hohen Auto. Winken brachte nichts, denn die Wagenfenster waren schwarz getönt. Schnell fuhr Papa weiter und ich spazierte zur Eingangstür. Heute dachte ich oft an meine Mutter. In den nächsten paar Tagen war es endlich soweit: mein Bruder würde auf die Welt kommen. Der Schultag war schneller vorbei als ich gedacht hatte und um elf Uhr stand mein Papa wieder mit seinem Audi vor der Schule. Das war einfach der große Vorteil. Meine Schule lag genau auf seinem Weg zum Trainingsplatz und dann konnte er mich immer einfach mitnehmen. "Servus", begrüßte er mich, als ich mich wieder zurück auf die hintere Sitzbank setzte. Dort lag auf einmal etwas Neues. Ein Kindersitz. "Ist der für das Baby?", fragte ich und schnallte mich an. "Nein der ist für dich", erklärte Papa und setzte seine Sonnenbrille auf. "Haha", meinte ich ironisch. "Wir müssen ganz schnell ins Krankenhaus fahren", meinte er dann und fuhr in die andere Richtung, mit Vollgaß. "Ist das Baby schon da?", rief ich und setzte mich auf. "Es dauert nicht mehr lange", grinste er und schaute in den Rückspiegel.

Mario PoV:

Anscheinend ging es Philipp doch nicht so ganz am Hintern vorbei, dass sein Bruder im Anmarsch war. Jenna hatte mich kurz nach dem Training angerufen, dass ich schleunigst meinen "Arsch" herbewegen sollte, deswegen musste ich jetzt gründlich aufs Gas treten. Wie oft ich diesen Weg schon gefahren war. Wie oft ich ihn mit Angst gefahren war. "Wir sind da, schnell", gab ich meinem Sohn das Zeichen zum Abschnallen und sprang aus dem Auto. Gemeinsam rannten wir den langen Gang entlang und blieben erst stehen, als wir Anni auf einer Bank sitzen sahen. "Da musst du rein", erklärte sie und zeigte auf eine Tür gegenüber von ihr. "Bleib mal bei der Tante", wies ich Philipp zurecht und stürmte in den Kreißsaal. Weil Jenna seit der letzten Schwangerschaft nicht wirklich an Masse zugelegt hatte hatten die Ärzte beschlossen, dass es dieses Mal vermutlich wieder ein Kaiserschnitt sein würde. Diesmal wollte ich dabei sein. Diesmal wollte ich es nicht verpassen. Als ich eintrat erblickte ich direkt meine Frau, wie sie angestrengt auf dem OP- Tisch lag. "Ich bin da!", verkündete ich und alle Köpfe fuhren zu mir herum. "Ein Glück", flüsterte sie, während die Ärzte schon an ihrem Bauch beschäftigt waren. Vorsichtig gab ich ihr einen Kuss auf den Mund und hielt ihre Hand. "Aufgeregt?", fragte ich kurz, doch sie schüttelte grinsend den Kopf: "Jetzt nicht mehr". "Philipp wartet schon draußen und ist ganz aufgeregt", lächelte ich und setzte mich neben sie. Die Ärzte begannen die Operation, doch ich wagte es nicht einmal einen Blick auf die Geschehnisse unterhalb Jennas Brustkorb zu werfen. "War es das letzte Mal auch so?", fragte ich, nur um sie abzulenken. "Das letzte mal war ich sechs Jahre jünger und alleine, also kann ich mit Sicherheit sagen, dass es auf jeden Fall schlimmer war", meinte sie leise und hielt meine Hand fest. Sie machte mich so stolz. "Wie war das Training heute?", erkundigte sie sich. "Ist das dein Ernst?", lachte ich, "du willst jetzt wissen wie mein Training war?" Jenna nickte grinsend. "Die Jungs erkundigen sich jeden Tag über dein gesundheitliches Befinden", erklärte ich. "Mir gehts..", sie wurde unterbrochen von einem lauten Schrei. Das Baby. Es war da. Erschrocken fuhr ich herum und sah, wie der Arzt ein schreiendes Baby nach oben hielt. "Mario?", hörte ich Jenna neben mir keuchen. Mein Kopf fuhr herum und ich sah in ihre Augen. "Küss mich bitte", forderte sie und ich beugte meinen Kopf nach unten. "Ich bin stolz auf dich", flüsterte ich im Kuss und drückte ihre Hand ganz fest. Die Krankenschwester drängte sich neben mich und legte Jenna ein Bündel auf den Brustkorb. "Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge", verkündete sie strahlend. Wissen wir schon, dachte ich mir und gab ein "Dankeschön" zurück. "Haben sie sich schon einen Namen ausgesucht?", fragte sie weiter. "Jonas", entgegnete Jenna kurz und strich über die Stirn unseres Sohnes. "Schön", gab sie zurück und entfernte sich wieder vom Krankenbett. Ich sah, wie Jenna zu weinen begann. Vorsichtig strich ich ihr mit den Fingern die Tränen von der Wange, doch sie beachtete mich gar nicht. Sie war so fixiert auf das kleine Ding auf ihrer Brust, dass sie gar nichts mehr wahrnahm. Diesmal war es gut gegangen. "Schau mal, das ist dein Papa", flüsterte sie und drehte vorsichtig den kleinen Kopf in meine Richtung. Urplötzlich musste ich heftig anfangen zu grinsen. "Hallo", flüsterte ich und strich über die Wange. Die Haut war noch ganz weich und er schaffte es noch nicht seine Augen zu öffnen. "Darf ich mal?", fragte ich und packte das Handtuch. Es war krass wie wenig Kinder wiegen konnten. Ich lief an den Ärzten vorbei, die Jennas Bauch wieder zunähten und setzte mich an einen kleinen Tisch. Ich fühlte mich wie in eine Zeit zurückgesetzt. Zurückgesetzt in die schönste Zeit meines Lebens. Jonas verzog das Gesicht und begann wieder zu schreien. "Alter Schreihals", grinste ich und legte ihn an meinen Brustkorb. Er atmete wieder leichter. Ich hatte die Kinderschreie vermisst, weil Philipp schon so alt geworden war. "Darf ich?", mischte sich die Krankenschwester ein und nahm mir Jonas vom Arm. Rasch holte ich mein Handy heraus und verkündete die Nachricht. "Götze Nr. 2 ist an Bord!", schrieb ich meiner Familie und meiner Mannschaft. Meinen besten Freund beschloss ich später anzurufen. "So wir sind fertig", wendete sich der Arzt an mich und reichte mir die Hand, "meinen herzlichen Glückwunsch". "Dankeschön", entgegnete ich wieder kurz und sah, wie eine Schwester Jenna auf ein Krankenbett hievte, weil sie ihre Beine noch nicht bewegen konnte. Als sie an mir vorbeigeschoben wurde streckte sie ihre Hand aus und ich klatschte mit ihr ein. Sie wurde in den Raum gebracht, wo sie schon die letzten Tage gelegen war. "Ich hol schnell die Anderen", rief ich ihr hinterher und wollte in die entgegengesetzte Richtung zum Gang laufen. "Herr Götze!", schrie mich die Schwester von vorhin. Ich fuhr herum und sie drückte mir meinen Sohn wieder auf den Arm. "Dankeschön, Frau...", ich schaute auf ihr Namensschild, "Schwester Theresa". "Soll ich ihren Verwandten Bescheid geben?", fragte sie und zog ihren Kittel aus. "Das wäre nett, danke", nickte ich. "Sie brauchen sich nicht ständig bei mir zu bedanken, das ist mein Job", lachte sie. "Ich glaube es gibt schlimmeres hier als freundliche Patienten", gab ich zurück und sie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. "Da haben sie Recht", grinste sie und verschwand in Richtung Gang. Ich machte mich derweil auf den Weg zu Jennas Zimmer. "Schau mal wen ich dabei hab", rief ich und setzte mich neben sie auf die Bettkante. "Jetzt sind wir endlich wieder zu viert", wisperte sie und schaute an die Wand gegenüber. Ich wusste, dass sie oft an Lia dachte. Wenn sie alleine war. Vor Philipp hatte sie noch nie ein Wort über sie verloren. Ich wusste selbst nicht einmal, ob Philipp oft an sie dachte, ob er sich überhaupt noch an sie erinnerte. Mit den Jahren hatte sich viel verändert. Anni und Felix wohnten wenige Meter neben uns, Fabian und Irina hatten auch eine Tochter und Jenna hatte sich als wundervolle Mutter entwickelt. Inzwischen war sie 23 Jahre als und ich 27. Immernoch sehr jung, doch Philipp war sehr zufrieden mit seinen jungen Eltern, jedenfalls sagte er das immer. "Mama?", hörte ich auf einmal jemanden auf dem Gang schreien. Ruckartig wurde Jenna aus den Gedanken gerufen und fuhr hoch. "Pssst Philipp!", konnten wir Anni vor der Tür zischen hören. Vorsichtig wurde sie geöffnet und unser Sohn kam herein gestürmt. "Mama!", rief er nochmal und sprang auf Jennas Bett um sie zu umarmen. "Na alles klar bei dir?", fragte sie und strich ihm seine braunen Haare zurecht. "Ja", grinste er und schmiegte sich an ihre Seite. "Schau mal, das ist dein Bruder", flüsterte ich und legte Jonas auf Jennas Bauch, sodass Philipp ihn sehen konnte. "Hallo, willkommen an Bord", quietschte er und streichelte seine kleinen Hände. Anni hatte sich einen Stuhl geholt und setzte sich gegenüber von mir. "Hey", grinste sie ihre Schwester an und gab ihr einen Schmatz auf die Backe, "Glückwunsch Schwesterherz". Ihre Entwicklung war atemberaubend, fast schon gruselig. Keine Spur war mehr vom pubertierenden Teenager übrig. "Ich hab gehört ich bin Onkel geworden", rief auf einmal jemand von der Tür aus. Es war Felix. Sofort stand ich auf und lief ihm in die Arme. "Bruuuder, Alles Gute!", rief er und klopfte mir auf den Rücken. "Danke Alter", antwortete ich und zeigte auf einen Stuhl, den er sich nehmen konnte. "Schon wieder ein Mario", stöhnte Anni, weil Jonas wieder haargenau wie Philipp bei seiner Geburt und so auch haargenau wie ich aussah. "Diese Gene müssen einfach weitergegeben werden", grinste ich und strich Jonas über die Haare. "So jetzt spannt uns mal nicht länger auf die Folter, wie heißt der Kleine denn jetzt", drängte Felix. "Jonas", posaunte Philipp es heraus. "Jonas", wiederholte Felix nickend und beugte sich zu seinem Neffen herunter, "Hi Jonas". Der Zusammenhalt zwischen unserer Familie war fantastisch. Jonas würde die Familie bereichern und ich hatte verdammt nochmal Bock auf das langweilige Familienleben.


Wie ihr sehen könnt bin ich back. Wie hab ich mich geschlagen? ♥

Love never runs out (Mario Götze FF - ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt