Kapitel 93

937 49 10
                                    

Ab diesem Zeitpunkt kamen jeden Tag zwei Polizisten bei uns vorbei und betreuten uns. Pep hatte mich darum gebeten diese Saison nicht mehr mitzuspielen, sondern erst nächste Saison wieder voll und ganz da zu sein. Er hoffte jedenfalls, dass bis dahin wieder alles gut wäre. Jenna sah mit jedem Tag dünner und blasser aus und auch Alex schien es genauso zu gehen. Auch Jennas Papa Michael, Theo und meine Eltern kamen vorbei, genauso wie Alex Mutter Susanne. "Sagen sie uns doch einfach, wenn sie die Beiden nicht finden können und verharmlosen sie die Situation nicht", fuhr Jenna eines Morgens, fast zwei Wochen nach dem Verschwinden die Beamten an. Langsam wurde sie paranoid. "Jenna", zischte Anni empört. "Sie meint es nicht so", flüsterte ich und nahm meine Freundin in den Arm. Ihre knochigen Arme waren eiskalt und ihr Gesicht trug dunkle Augenringe. "Frau Götze wir gehen fest davon aus, dass die Kinder wieder auftauchen. Wir haben ein deutschlandweites Verfahren am Laufen und ihr ganzes Umfeld wurde auch schon gecheckt", erklärte die Beamtin. "Das heißt doch gar nichts, ich hab schon genug Krimis gesehen", entgegnete sie grob. "Jenna du musst Fernsehen von Realität unterscheiden, da dauert es länger", schnaufte Anni und setzte sich an den Küchentisch. "Sie sind jetzt schon zwei Wochen weg! Weißt du wieviel das ist?!", schrie meine Frau und versuchte sich von mir wegzureißen. "Jenna was ist denn los jetzt!", zischte ich und packte sie um sie in unser Schlafzimmer zu ziehen. "Lass mich los!", schrie sie und versuchte sich von mir wegzudrücken. "Schatz du drehst gerade durch", meinte ich ruhig und umarmte sie. "Ich kann einfach nicht mehr", kreischte sie und krallte ihre Finger in meinen Rücken. "Das sind Polizisten und die wissen genau, wenn eine Suche sinnlos ist", flüsterte ich ihr ins Ohr und streichelte sie vorsichtig über den Rücken, wo ich schon ihre Wirbelsäule spüren konnte. "Mario das ist wie damals bei Lia", keuchte sie und ich spürte, wie sie ihr ganzes Gewicht in meine Arme legte. Mit meiner letzten Kraft hievte ich sie aufs Bett, wo sie sich wie ein Stein fallen ließ. "Ich pass auf dich auf ja", flüsterte ich und streichelte durch ihre Haare. "Danke", schniefte sie, nahm meine Hand und küsste sie. Den ganzen Vormittag saß ich neben ihr und sah ihr beim Schlafen zu. Ab Mittag holte ich Jonas dazu und versuchte mich auch hinzulegen um mich auszuruhen, doch es gelang mir nicht. Auf einmal klingelte das Telefon und mit einem Mal stand Jenna neben mir auf den Beinen. So schnell es ging rannten wir nach draußen, wo Alex schon längst den Hörer in der Hand hielt. "Wer ist da?", meinte sie aufgeregt. Die Person redete irgendwas und auf einmal riss sie die Augen auf: "Wirklich? Oh mein Gott, Schatz wo bist du?! ...Okay, Wir fahren hin, versteck dich!", redete sie schnell und als sie auflegte begann sie zu weinen. "Was ist los?", fragte Jenna hoffnungsvoll. "Das war Lucie, sie ist in Düsseldorf", flüsterte sie und sprang auf, "ich hab keine Ahnung wieso aber sie hat mir eine Adresse gegeben und da müssen wir sie abholen", erklärte sie hastig und packte ihre Tasche. So schnell es ging setzten wir uns in meinen Wagen und fuhren hinauf, Alex, Jenna und ich. "Sie lebt", redete Alex neben mir auf dem Beifahrersitz vor sich her. "Wo Lucia ist, da ist auch Philipp, verstehst du das?", rief ich zu Jenna auf die Rückbank und raste auf die Autobahn, während Alex die Adresse, die ihr ihre Tochter gesagt hatte ins Navi eingab. Mein Herz pochte wie verrückt und je schneller ich fuhr, desto besser ging es mir. Nach vier Stunden viel zu gefährlicher Raserei kamen wir am Ziel an, einer Telefonzelle. Alex sprang sofort heraus und schaute sich nach Lucia um. "Lucie?", schrie sie und auf einmal kam von der anderen Seite ein Mädchen hergelaufen. Sie sah abgemagerter aus und heulte wie am Spieß. Auch Alex begann heftig zu weinen und nahm sie kreischend in die Arme. Lucia zitterte am ganzen Körper und hatte einen roten Kopf. Das Allerschlimmste in dieser Situation war jedoch Jennas Gesichtsausdruck. Sie stand abgestützt auf der Motorhaube drei Meter von den Beiden entfernt und schaute sich sehnsüchtig nach Philipp um. "Wo ist er?", faselte sie vor sich her. "Lucie wo ist Philipp", rief Alex aufgeregt, als sie sich wieder aus der Umarmung gelöst hatten. "Bei einem Mann, er hat uns nach der Schule eingefangen und in sein Auto gezerrt", ratterte sie herunter und atmete ganz schnell. "Wo ist der Mann jetzt?", wollte ich wissen und zückte sofort mein Handy. "Er will nach Holland fahren und Philipp da verstecken", erklärte sie heulend und als sie mein Handy sah begann sie zu kreischen: "Kein Handy, er will von dir zwei Millionen Euro haben, dann lässt er ihn frei und wenn du die Polizei davon informierst bringt er ihn gleich um". Bei diesen Worten hörte ich nur einen dumpfen Schlag und Jenna neben mir lag auf dem Boden. "Wieso hat er dich dann freigelassen?", fragte Alex. "Jemand muss euch doch die Nachricht überbringen", flüsterte sie und auf einmal wurde mir auch schlecht. Der Mann hatte es nur auf Philipp und mein Geld abgesehen. "Ich zahl ihm Alles, wie kann ich dieses Arschloch erreichen", zischte ich und nahm Jenna auf die Arme um sie ins Auto zu legen. "Er fährt nach Holland, vielleicht sind sie schon da, er hat mir eine Adresse gegeben", meinte sie und holte aus ihrer dreckigen Jeans einen Zettel heraus. "Rotterdam", las ich und begann zu überlegen. Alleine konnten wir es nicht schaffen. Wir brauchten einen Plan. "Mami ich will nach Hause", weinte das Mädchen und drückte sich an ihre Brust. "Schatzi wir müssen Philipp doch noch finden", lehnte Alex ab. "Nein, wir fahren", entgegnete ich und ging zurück zu Jenna, die schluchzend auf dem Rücksitz saß. "Komm mit nach vorn Baby", flüsterte ich und hakte mich bei ihr unter. Sie hatte gar keine Kraft mehr. Lucia und ihre Mutter setzten sich nach Hinten und die ganze Fahrt erklärte sie uns gefasst, was passiert war. Ein großer Mann, ungefähr 50 Jahre alt hatte die Beiden in sein Auto in München gezerrt und war mit ihnen stundenlang in eine Hütte gefahren, wo er sie auf den Dachboden sperrte und nur einmal am Tag vorbeikam um ihnen etwas zu essen zu geben. Gestern war er dann wieder stundenlang nach Düsseldorf gefahren, wo er Lucia eingetrichtert hatte, was sie uns zu erzählen hatte und fuhr mit Philipp weiter. "Wie geht es Philipp?", wollte ich wissen und bog auf die Autobahn. "Er weint die ganze Zeit. Am Anfang hatte er noch Hoffnung, aber er vermisst euch ganz doll. Als ich aussteigen musste hat er wie am Spieß geschrien und er hat furchtbare Angst", beschrieb sie leise. "Oh Gott", schluchzte Jenna neben mir und legte ihren Kopf ans Fenster. "Er lebt, das ist die Hauptsache", meinte ich zu ihr und nahm ihre Hand. "Er hockt irgendwo in einem Hinterhaus in der Niederlande und vegetiert vor sich hin verdammt!", giftete sie mich an und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. "Jenna wir wissen es Alle!", zischte ich, "aber wir holen ihn da raus". Danach sagte sie nichts mehr, sondern schaute nurnoch aus dem Fenster. Am späten Abend kamen wir wieder in München an, wo wir Lucia und ihre Mutter nach Hause fuhren und dann auch in unsere Wohnung gingen. Nur Marco und Anni waren da, was mir die Autos in der Einfahrt verrieten und natürlich das Polizeiauto. Im Wohnzimmer lief der Fernseher und im Büro unterhielt sich jemand, doch ich brachte erstmal Jenna ins Bett. Danach lief ich ins Büro, wo die Beamten vor ihren Laptops saßen. "Was gibt es Neues?", wollten sie wissen, "wo sind sie gewesen?" Sie hatten nichts davon mitbekommen und wie es aussah hatte sich auch niemand getraut ihnen das zu erklären. "Ich brauche ihre Hilfe, aber nicht als Polizisten, sondern als Menschen mit polizeilichen Kenntnissen", keuchte ich und erklärte ihnen die ganze Situation. Die Zeitungen mussten weiter berichten und niemand durfte wissen, dass wir kurz davor waren Philipp zu finden, nicht einmal die Polizeiwache durfte davon wissen, denn wenn der Täter, der angeblich Patrick hieß, etwas davon erfuhr wäre Philipp tot, ohne Zweifel. "Einverstanden", meinte Herr Vogel, einer der Polizisten und fuhr sich über die Stirn, "das ist zwar alles andere als richtig und gut für unseren Job, aber wir machen es". "Man muss mal was riskieren", nickte ich. "Also wann gehts los?", wollte Vogel wissen. "Wenn jemand anderes fährt jede Zeit", zuckte ich mit den Schultern. "Okay los gehts", rief Haller, der andere von den Beiden. "Soll ich Jenna schlafen lassen?", fragte ich unsicher, weil ich genau wusste, dass sie Zuhause durchdrehen würde. "Sie würde uns bei der Suche nur behindern, wir nehmen Herr Reus noch mit dazu und das reicht", antwortete Vogel, "gehst du ihn holen, er ist im Wohnzimmer". Ich drehte um und lief ins Wohnzimmer, das ja leider keine Tür hatte und platzte in eine Knutschserie der Beiden herein. Weil sie mich nicht bemerkten ging ich zum Kühlschrank in der Küche und holte mir ein Wasser heraus. Beim Zuschlagen der Tür schreckten die Beiden auseinander und ich tat so, wie wenn ich sie nicht gesehen hätte. "Marco pack deine Sachen, wir fahren nach Rotterdam", meinte ich angefressen und warf ihm seinen Rucksack entgegen. "Wieso das denn jetzt?", rief er und stand von der Couch auf. "Ein Kerl hat Philipp entführt, wir haben Lucia gefunden", erklärte ich kurz und wollte wieder in den Flur laufen, doch drehte nochmal um: "Ach ja Ann-Kathrin du passt auf Jenna auf, sie bleibt hier". Auf der Autofahrt musste ich Marco alles ganz genau erklären und das Niemand von der Aktion mitbekommen durfte. Auf die Knutscherei sprach ich ihn gar nicht erst an. "Die Adresse hier ist übrigens ein Reihenhaus in der Reichengegend", meinte Haller vom Beifahrersitz aus und zeigte mir eine Karte. "Wozu will der Typ mein Geld, wenn er selbst schon soviel hat?", fragte ich. "Damit er auch soviel hat und vielleicht braucht er etwas ganz dringend und da fehlen zwei Millionen für", antwortete Marco. Die Autofahrt war lange, da die Polizisten auf keinen Fall auffallen durften und deswegen sämtliche Autobahnen mieden. Zwischendrin war ich wohl für einige Stunden eingeschlafen, denn auf einmal wurde ich von Marco aufgeweckt. Wir standen auf einem großen Parkplatz. "Im obersten Stockwerk brennt Licht", flüsterte einer der Polizisten und deutete auf ein Haus etwa 100 Meter von uns entfernt. "Okay Mario du gehst da jetzt hin und Marco du kommst mit", ordnete Haller an und stieg aus. "Fahr mit dem Auto vor die Haustür, klingel und tu so, wie wenn du das Geld dabei hättest, wir helfen dir dann", erklärte Vogel und ich stieg auf den Fahrersitz. Weil wir extra Jennas Wagen genommen hatten um ja nicht aufzufliegen kannte ich mich gut aus und fuhr nervös dem Haus entgegen. Es gab nur ein Klingelschild, "Patrick Münch". Ich drückte es und bemerkte auch wenig später die Kamera daneben. "Wer ist da!", brüllte eine Männerstimme. "Götze, ich glaube wir haben etwas zu besprechen", meinte ich und versuchte mir meine Angst und Nervosität nicht anmerken zu lassen. "Sind sie alleine?", rief er. "Ja", log ich und wenig später öffnete mir ein Mann die Tür. Beim Alter hatte sich Lucia leicht verschätzt, denn er war höchstens 40 und fast einen Kopf kleiner als ich. "Wo ist er", meinte ich ernst. "Der kleine Junge?", grinste er böse. "Mein Sohn", erklärte ich genauer. "Wollten sie wirklich zwei Millionen für ihn hinblättern?", lachte er. "Geben sie mir meinen Sohn, oder sie sehen das Geld nicht", meinte ich, als er schon aufs Geld anspielen wollte. "Ja dann müssen sie ihr Geld wohl leider behalten", zuckte er mit den Schultern. "Von was reden sie da", schüttelte ich genervt den Kopf. "Ich hatte gedacht sie kommen nicht mehr, da hab ich ihn mit zum Angeln genommen und dort ist er mir leider ins Wasser gefallen", erzählte er ämüsiert. "Philipp kann aber nicht gut schwimmen", faselte ich vor mich her. Das konnte nicht sein. "Sagen sie mir nicht, dass sie ihn alleine gelassen haben", zischte ich ungläubig. So etwas würde Niemand machen. "Nein ich hab ihm sogar noch zugeschaut", strahlte er stolz. Das war zu viel für mich. "Sie haben meinen Sohn umgebracht", brüllte ich und wollte ihn einfach nurnoch zusammenschlagen. Nein, ich wollte nur, dass er Schmerzen bis an sein Lebensende hatte. Bei mir hatte er es ja geschafft.

Love never runs out (Mario Götze FF - ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt