14. Ibu800

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Er kam die ganze Nacht nicht zurück ins Hotelzimmer. Bei jedem Versuch, die Augen zu schließen und nicht wieder über das Geschehene nachzudenken, begann das Karussell vor meinem inneren Auge und mir wurde schlecht. Weiterhin wach zu bleiben, würde bedeuten, mich gedanklich in die Situation zurückzubegeben. Darüber nachzudenken, was das mit uns und dem, was passierte, zu bedeuten hatte. Mit Volkan rumzumachen war zuvor nie eine Option und nun konnte ich nicht einmal mit ihm darüber sprechen. Um ein Haar hätten wir miteinander geschlafen, was natürlich in einer Freundschaft das absolute Tabu war. Eigentlich. 
Ausgelaugt schlief ich einige Zeit und cirka drei Wasserflaschen später ein.
Doch am nächsten Morgen war noch immer keine Spur von ihm, das Bett blieb leer.
Gedankenverloren stocherte ich nach einer schnellen, aber absolut notwendigen Dusche in meinem Müsli im Frühstücksbereich des Hotels. Ich hatte nicht versucht ihn oder einen anderen von seinen Freunden zu erreichen, sondern entschied, allein zum Frühstück zu gehen. 
Die Ibu800 in meinem Magen schien 4kg zu wiegen. Nun war ich diejenige, die eine Sonnenbrille zum Schutz vor mitleidigen Blicken und der Helligkeit trug und empfindlich auf jedes Geräusch reagierte. Ich zuckte zusammen als Volkan neben mir auftauchte, mich von hinten umarmte und mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. Er setzte sich wie selbstverständlich mir gegenüber und für einen kurzen Moment überlegte ich, ob er noch wusste, was passiert war.
Versteckt hinter dunklen Gläsern schauten wir uns minutenlang an, ohne etwas zu sagen. Er schaute auf seine Hände, seufzte hörbar, als er doch zu sprechen begann. 
"Tut mir leid, was heute Nacht geschehen ist. Wir haben uns da irgendwie... gegenseitig mitgerissen, glaub ich." fing er mit sanfter, jedoch etwas rauer  Stimme an. Gleichzeitig erleichtert und auch enttäuscht nickte ich.
"Weiß auch nicht, wie das passiert ist. Lass es uns vielleicht einfach unter Wir haben zu viel gesoffen und vergessen es einfach verbuchen, hm?" versuchte ich die Situation zu lockern und uns beide aus der Verantwortung für letzte Nacht zu ziehen. Es war das einzige, was mir einfiel. 
"Ja, klingt nach'm Plan.". Sein Lächeln war nur halbherzig, das konnte ich erkennen. Doch schnell fuhr er fort zu sprechen.
"Johannes ist krass abgestürzt. Lag im Bad in seiner Kotze, als ich ins Zimmer kam. Er hat ultra angefangen zu weinen. Wir glauben, dass er auf Toilette im Club was gezogen hat, das war nicht mehr normal.". Während er erzählte, zog er meinen Kaffee zu sich und trank.
"Mussten echt in die Notaufnahme, weil's auch nach'm dritten Mal Kotzen nicht besser wurde. Wir haben jetzt alle in seinem Zimmer auf Stühlen gepennt, komme gerade erst ausm Krankenhaus.". Er erzählte fast wie eine außenstehende Person von diesem heftigen Ereignis. Ich rührte mich nicht, schaute ihn nur überrascht und zugleich besorgt an. 

Ich konnte kaum glauben, was er da sagte. Er schien meine Verwunderung zu merken.
"Ist wieder alles gut, er kommt heute wieder raus und fährt mit uns zurück. Manchmal dreht er bisschen ab, und nimmt Zeug, ohne zu fragen, was es ist. Dumm einfach.". Schulterzuckend leerte er meinen Kaffee und schaute mich entschuldigend an. 

Nach dem Frühstück gingen wir nochmal ins Zimmer. Beim Eintreten konnte ich es mir nicht verkneifen, ihm ins Gesicht zu schauen und sein Lächeln bedeutete mir, dass er sich ebenfalls genau an alles erinnerte. In einer Übersprungshandlung griff er nach einer der Wasserflaschen vom Tisch und warf sie immer wieder von einer Hand in die andere, um die doch etwas peinliche Stimmung zu überbrücken. 
"Wir fahren hier gegen 15 Uhr los, hält dein Kopf so lange aus?". Ertappt durch die noch offen liegenden Ibuprofenpackung, nickte und gähnte ich gleichzeitig.
"Ich mache noch einen Nap bis dahin" grinste ich ihm zu. 
"Ich bin noch so aufgedreht durch die Sache mit Johannes, schlafen ist da nicht drin. Wollen wir einen Film angucken und du pennst dabei ein?". Während er sprach, stellte er die Flasche wieder auf den Tisch und lief bereits auf die kleine Couch zu.
"Kannst dir gleich überlegen, welchen du sehen willst. Ich bekomme safe nur zwei Minuten mit." antwortete ich müde und lief ihm nach. Volkan setzte sich entspannt breitbeinig auf das Sofa im Hotelzimmer und klickte sich durch circa 300 Filme, bis er endlich etwas Passendes fand.

Ich saß zu Beginn noch mit angewinkelten Beinen neben ihm, verfolgte den Inhalt bestmöglich, bis ich meinen Kopf doch auf seiner Schulter abgelegte. Meine Augen wurden immer schwerer, bis ich mich nicht mehr zusammenreißen konnte und mit dem Kopf hinab rutschte und ihn auf seinem Schoß ablegte. Irgendwann schob er eines der kleinen Dekokissen unter meinen Kopf. Seine Hand streichelte über meine Schulter und er spielte mit meinen Haaren, bis ich einschlief. Wie im Déjà-vu nahm ich ein Klopfen und anschließendes Piepen an der Tür wahr, bis Hakan und die anderen Jungs in dem kleinen Flur des Zimmers standen. Auf dem Fernseher wiederholte sich der Trailer des Films, den Volkan vorhin ausgesucht hatte. Mein Kopf ruhte noch immer auf seinem Schoß und er hatte eine Decke über mich gelegt. Volkan saß, halb liegend, mit dem Kopf in den Nacken gelegt, schlafend auf der Couch. Hakan trat näher an uns heran und sprach seinen Bruder mehrmals laut an, der irgendwann vor Schreck zusammenzuckte und auch mich damit durchrüttelte.
"Ey Bro, es ist viertel nach drei, wo bleibt ihr.". Verschlafen schaute Volkan ihn an und sortierte  schlaftrunken die Worte.
"Wieso geht eigentlich niemand an sein Handy, Alter. Liegt der hier und pennt." lachend packte Hakan die Sachen seines Bruders zusammen. Volkan machte Anstalten, aufstehen zu wollen, sodass ich mich aufsetzte und beobachtete, wie er nach seiner Zigarettenschachtel vom Tisch griff. Hakan folgte ihm auf den Balkon und die Brüder begannen ein Gespräch, während ich noch einmal ins Bad ging, um mich frisch zu machen. Als ich Augenblicke später zurück ins Zimmer kam, stand Hakan, ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippelnd im Flur, umgeben von Volkan, der entspannt gegen die Wand lehnte und auf seinem Handy tippte. 
"Ok, wir können".

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt