101. Lieben und geliebt werden

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Volkan

„Du? Pünktlich im Büro? Ist denn schon Weihnachten?" lachte Johannes mir entgegen, als ich am nächsten Morgen mit zu wenig Schlaf und einem Coffee to go,  von meinem Lieblingsbäcker in meiner Straße, durch die Tür ins Büro lief und meine Jacke halbherzig an der Geraderobe ablegte. Es brauchte fünf Wecker und drei Snoozephasen, bis ich tatsächlich unter die Dusche krauchte, um wach zu werden.
„Ja, haben ja viel vor.". Meine Stimme war angespannt, während ich halbherzig zu ihm sprach. In mir kochte wieder die Wut über all die Vorwürfe von gestern auf, doch wollte ich Johannes aus dem Streit mit meinem Bruder raushalten. Ich hatte mir noch viele Gedanken gemacht, als ich mit dem Auto nach Hause fuhr und eigentlich hatte ich erwartet, dass Hakan anrufen und sich für seinen Ausbruch entschuldigen würde, doch es kam nichts. Sturer Esel.
Ich nahm mir vor, ihm nun die volle Portion an Professionalität zu geben. Er würde es höchstwahrscheinlich wieder ummünzen, dass ich nun passiv aggressiv war und keine Kritik von ihm vertrug, doch diesen Vorwurf ließ ich mir nicht machen. Nachdem ich gestern über zwei Stunden auf meinem Balkon saß und über seine Worte nachdachte, entschloss ich, ihm also genau das zu geben, was er von mir verlangte. Einen Roboter, der fremdgesteuert funktionierte, ohne Gefühle und eigene Gedanken.

Mit einiger Verspätung kam auch mein Bruder durch die Eingangstür geschlendert und legte seine Jacke ab. Er stockte für einen kurzen Augenblick, als er meine Jacke wiedererkannte und spähte vorsichtig durch den Flur in das Büro, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich meine Jacke war. Schnell blickte ich hinunter auf den Bildschirm, damit er nicht sah, dass ich ihn beobachtete.
„Morgen" kam es nur schroff, als er sich auf seinen ledernen Drehstuhl setzte und den PC anmachte. Nach einigem Zögern blickte er an seinem Bildschirm vorbei zu mir und schien zu überlegten.
„Warum bist du schon da? Und schon so fleißig?"
„Gibt doch viel zu tun, meintest du.". Mein Tonfall war spitz.
„Das ist ja mal was Neues.". Er war also auch noch immer wütend und konnte es nicht lassen, weiter zu sticheln. Ich redete nur das nötigste und fokussierte mich darauf, die To-Dos für den Tag abzuarbeiten. Während ich auf dem Balkon saß und mir gerade eine Zigarette ansteckte, sah ich meinen Bruder bereits durch die Büroräume in Richtung des Besprechungsraums gehen, wo die gelieferten Kostüme darauf warteten, anprobiert zu werden. Genervt drückte ich die Zigarette wieder aus und lief ihm nach. Ich wollte ihm keine Angriffsfläche bieten, nur weil diese eine Sache noch nicht erledigt war.
Wortlos zog ich den ersten Reißverschluss des Kleidersacks auf, begutachtete das zusammengestellte Outfit und begann mich auszuziehen. Wir schwiegen uns an. Gerade, als ich den letzten Knopf des schwarz gemusterten Hemdes schloss, hörte ich die Stimme meines Bruders.
„Stell dich mal vor die Wand, dann können wir ein Bild machen. Johannes? Kommst du mal, er probiert grad die Sachen an." rief er nun etwas lauter in den Nebenraum. Wie gewünscht, stellte ich mich vor die weiße Wand und posierte für die Fotos, die Hakan schoss. Johannes lehnte sich in den Türrahmen und verzog nur hin und wieder das Gesicht, wenn ich etwas Neues anprobierte.
„Ok, was meinst du?" fragte mich mein Bruder kühl, während ich in Boxershorts neben ihm stand und ebenfalls auf die Hänger schaute.
„Ich nehm das schwarze, aber ne Nummer größer und die Lederkombi finde ich auch gut."
„Meinst du nicht, das wird wieder zu warm?" besorgt strich er mit der Hand über das dunkelrote Leder und klopfte exemplarisch auf das dicke Material.
„Geht doch ums Aussehen und die Wirkung.".
Hakan seufzte hörbar aus und machte eine kurze Pause.
„Was ist mit dem dunkelgrünen?". Seine Stimme kippte in einen etwas genervten Klang.
„Weiß nicht. Finde, das passt nicht gut zum Image und zum Lied. Bisschen bunt.".

„Finds auch nicht so passend. Also lieber bisschen schlichter." hörte ich nun auch Johannes von der Tür aus laut überlegen und mir zustimmen.
„Ok. Kannst du die weiße Jeans nochmal anprobieren, damit wir die abstecken können?".
„Da muss nichts gekürzt werden."
„Doch, sonst sieht man die Schuhe nicht und du stolperst vielleicht."
Ich schnalzte mit der Zunge und griff widerwillig nach der Hose, um sie noch einmal anzuziehen. Hakan kniete sich vor mich, um die Hosenbeine abzustecken. Autsch
Grimmig schaute ich hinunter und beobachtete, wie er ungeschickt die Nadeln durch den Stoff führte. Autsch. Schon wieder. Allmählich glaubte ich, dass es keine Versehen waren. Und schon traf mich erneut der Nadelstich.
„Ey, was machst du denn da unten. Gleich ist die Hose voll mit Bluttropfen."
„Dann hör auf zu zappeln." schnauzte er mich an.
„Guck du doch einfach hin, was du da machst.". Wieder traf mich die Spitze der Nadel. Ich schüttelte mein Bein, um seinen Griff um den Stoff zu lösen.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt